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Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)

Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Dein totes Mädchen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Berg
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Sie wurde allein vom Knacken und Krachen der brennenden Holzscheite durchbrochen. Caroline spürte die Fragen, die Ulf auf dem Herzen lagen, und bemerkte im Schein des Feuers, wie seine Gesichtsmuskeln arbeiteten. »Du bist tatsächlich nicht mehr hier gewesen«, sagte er.
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich …« Sie wusste nicht, wie sie es sagen sollte, ob sie überhaupt etwas sagen sollte, und ihr wurde plötzlich klar, dass es leichter gewesen wäre, wenn Björn da gewesen wäre, sogar mit Maybrit als Puffer wäre es besser gewesen. Was sagte man dem Mann, den man einst ohne Erklärung verlassen hatte? Vor dem man um die halbe Welt geflüchtet war? Wie konnte sie ihm, einem Mann von fast fünfzig, die Gefühle und Ängste jener jungen Frau nahebringen, die sie einmal gewesen war und der sie in späteren Jahren manchmal selbst verständnislos gegenübergestanden hatte? Heute würde sie Ulf nicht mehr zurücklassen, nicht mehr wortlos verschwinden, aber die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen, Geschehenes nicht ungeschehen machen. Sie konnte sich lediglich für ihr Verhalten entschuldigen, wie eine Mutter sich für ihr Kind entschuldigte, mehr nicht. Aber war es das, was er wollte?
    »Es … war nicht richtig, einfach zu gehen«, wagte sie schließlich einen Anfang. »Ich schäme mich heute dafür. Aber damals …«, sie schluckte, »damals habe ich keinen anderen Ausweg gesehen.«
    Er sagte lange nichts. Stattdessen ging er vor dem Kamin in die Hocke und nahm den Schürhaken. Ohne Hast schob er die Glut zusammen und legte zwei neue Scheite auf. »Warum, Lilli? Warum?«, fragte er schließlich. Er sah sie dabei nicht an.
    Sie betrachtete seine breiten Schultern, die sich unter dem enganliegenden Pullover abzeichneten, das dunkle, kurzgeschorene Haar seines Hinterkopfs.
    Wo sollte sie beginnen?
    Er war ihr trotz der langen Trennung so vertraut, als hätte sie ihn erst gestern das letzte Mal gesehen. Aber konnte sie auch so mit ihm sprechen? Würde er sie verstehen?
    »Fang einfach vorne an«, hatte sie immer zu ihrer Tochter gesagt. »Fang einfach vorne an, und alles andere wird sich ergeben.«
    Sie stellte die Flasche, die Ulf mitgebracht hatte, auf dem Tisch ab und setzte sich aufs Sofa.
    Fang einfach vorne an.
    »Ich war schwanger«, sagte sie leise.
    Ulf rührte sich nicht. Sie fragte sich, ob er ihr überhaupt zugehört hatte, als er sich endlich umdrehte. Sein Gesicht war grau. »Was ist mit dem Kind geschehen?«, fragte er tonlos.
    »Sie ist … gestorben«, erwiderte sie zögernd, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern.
    »Sie?«
    Caroline nickte.
    »Wann?«
    Sie sog zitternd den Atem ein. »Vor vier Wochen.«
    Sie sah das Entsetzen in seinem Gesicht und zog die Wolldecke an sich, knüllte sie vor ihrer Brust und vergrub ihre Finger darin, als sie spürte, was ihr Eingeständnis auslöste. Lianne hatte bis zu diesem Moment in diesem Haus nicht wirklich existiert. Lianne war nie hier gewesen. Deshalb war dieses Haus Carolines einzige mögliche Zuflucht gewesen. Es barg keine Erinnerungen an sie. Kein Kinderlachen, keine trappelnden Füße. Nicht das wütende Türenknallen eines Teenagers. Und auch keine Eindrücke ihrer erwachsenen Tochter. Es hatte keine Gespräche gegeben, keine gemeinsamen Abende vor dem Kamin. Hier gab es nur ihre eigene Kindheit und die gemeinsame Zeit mit ihren Eltern, aber das war jetzt vorbei. Jetzt war Lianne hier. Sie meinte ihre Stimme, ihr Lachen zu hören, spürte erneut die graue, alles ausschließende Leere nach ihrem Tod, den Schmerz – und was aus ihm erwachsen war. Unwillkürlich schauderte sie angesichts der Ausweglosigkeit ihrer Situation, und ihre Finger bohrten sich so fest in den alten zerschlissenen Wollstoff, dass er riss. Sie presste ihr Gesicht hinein. Nicht weinen. Nur nicht weinen. Wenn sie jetzt damit begann, würde sie nicht mehr aufhören können.

    Sie spürte Ulfs Hand auf ihrer Schulter. Ohne dass sie es bemerkt hatte, hatte er sich neben sie gesetzt. »Komm her«, flüsterte er. Sie zögerte, doch dann kroch sie wie ein Kind in seinen Arm, drückte sich an ihn, die Beine angezogen, die Arme vor der Brust verschränkt. Er legte die Decke über sie und umschloss sie behutsam mit beiden Armen. »Alles wird gut, Lilli.«
    Der mühsam aufrechterhaltene Damm brach, und sie weinte die Tränen, die sie in den vergangenen Wochen zurückgehalten hatte, während Ulf ihr das Haar aus dem Gesicht strich, sie wie ein Kind wiegte und ihr beruhigende Worte ins Ohr

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