Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
gewohnt, sich geliebt und ihre Zukunft geplant. In diesem Haus war ihre Tochter gezeugt worden.
Caroline berührte flüchtig seinen Arm. »Danke«, sagte sie leise.
Er wollte sie festhalten und dieses besondere Gefühl der Zweisamkeit zwischen ihnen noch nicht aufgeben. Aber er ließ sie gehen. Er sah ihr nach, wie sie ins Bad ging und die Tür leise hinter sich ins Schloss zog. Er betrachtete das Bett mit der sonnengelben Bettwäsche. Würde er hier schlafen können? Er war sich nicht sicher.
*
Am nächsten Morgen wachte er von dem leisen Summen auf, mit dem sein Smartphone eingehende Nachrichten meldete. Er griff nach dem Telefon und stellte fest, dass es bereits neun Uhr war. Wider Erwarten hatte er tatsächlich geschlafen, und zwar tiefer und fester, als er es für möglich gehalten hätte.
Draußen war es noch dämmrig, auch im Haus war es still. Håkan, sein Stockholmer Kollege, hatte ihm eine Nachricht geschickt. Ulf starrte auf das Display, doch auch nach dreimaligem Lesen konnte er nicht glauben, dass dort Carolines Name stand. Es musste sich um einen Irrtum handeln. Er war versucht, Håkan anzurufen, doch das Haus war zu hellhörig, um ungestört zu telefonieren, insbesondere in dieser Angelegenheit. Hastig schrieb er eine SMS und wartete ungeduldig auf die Antwort. Die war präzise und eindeutig. Bestürzt stand er auf.
Caroline war bereits wach, der Geruch von Kaffee strömte ihm entgegen, und aus der Küche fiel Licht in den Flur. Leise stieß er die Tür auf. Sie saß am Tisch und betrachtete eine Fotografie. Sie hörte ihn nicht kommen.
»Guten Morgen, Lilli.«
Beim Klang seiner Stimme schreckte sie auf und drehte die Fotografie um, bevor sie aufstand und sich ihm zuwandte. »Guten Morgen«, begrüßte sie ihn. »Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt.«
»Nein, hast du nicht«, erwiderte er, den Blick auf die weiße Rückseite des Fotos gerichtet. Was war es, von dem sie nicht wollte, dass er es sah?
»Hast du gut geschlafen?«, fragte er.
Sie lächelte flüchtig. »Es war ein beruhigendes Gefühl zu wissen, dass du da bist. Und du?«
»Gut, danke.«
»Möchtest du Kaffee?«, fragte sie.
Nein, wollte er sagen. Ich muss gehen. Er nickte jedoch nur stumm und trat an den Tisch.
Sie stand auf und nahm einen Becher aus dem Schrank. »Schwarz, wie früher?«
»Du weißt noch, wie ich meinen Kaffee trinke?«, fragte er überrascht.
»Ist mir gerade wieder eingefallen«, bemerkte sie leichthin, zu beiläufig, wie es ihm schien, um ehrlich zu sein.
Er nahm den Kaffeebecher entgegen und beobachtete, wie die Sonne hinter den Bergen aufging. Erste Strahlen fielen durch die Fenster und warfen einen rotgoldenen Schimmer in den Raum. Als Caroline neben ihn trat und seinem Blick folgte, wünschte er, die Innigkeit des vergangenen Abends wiederbeleben zu können, aber sie war fort, und nach Håkans Nachricht fragte er sich, ob sie sie jemals wieder teilen würden. Die schneebedeckte Oberfläche des Sees lag noch im Schatten der Berge und verschwamm in diffusem Graublau, aus dem sich ein Raubvogel materialisierte und am diesseitigen Ufer mit schwereloser Eleganz zur Landung ansetzte.
»Er ist oft um diese Uhrzeit hier«, flüsterte Caroline, als könne sie ihn verscheuchen, wenn sie lauter sprach. »Manchmal wünsche ich mir, mit ihm in der Morgendämmerung davonzufliegen und alles hinter mir zu lassen.« Die unerwartete Sehnsucht in ihrer Stimme schmerzte ihn, und er betrachtete sie. Sie hatte ihr Haar wieder zu einem Zopf zusammengefasst, und ihr Profil mit den hohen Wangenknochen zeichnete sich scharf vor dem hellen Himmel ab, beinahe selbst wie die Silhouette eines Raubvogelkopfes. Er kämpfte gegen das Bedürfnis an, sie zu beschützen, und seine innere Stimme mahnte ihn, jetzt den Kaffeebecher abzustellen und zu gehen. »Erinnerst du dich an die Sage von dem Bussard?«, fragte er stattdessen.
Nachdenklich runzelte sie die Stirn. »Er hatte sich in eine Menschenfrau verliebt …« Sie wandte sich ihm zu. »So war es doch, oder?«
Ulf nickte. »Seine Liebe gab ihm die Kraft, die Vogelgestalt abzulegen und um sie zu werben …«, begann er.
»… aber letztlich ist sie es, die ihr Menschsein aufgibt, um mit ihm zu fliegen«, fuhr sie fort und lächelte flüchtig, als ihr die Parallele zu ihren eigenen Worten bewusst wurde. »Meinst du, sie sind glücklich geworden?«
Ulf musterte den Vogel, der auf einem Pflock am Ufer saß und sich das Gefieder glättete. Glück war so flüchtig, so
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