Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
ihren grausamen Tod, der diesem so ähnlich war. Im Gegensatz zu dem Tier hätte Lianne jedoch noch am Leben sein können, wenn der Mann, der am Steuer des Unfallwagens gesessen hatte, nicht einfach weitergefahren wäre. Vielleicht, mahnte sie sich selbst. Vielleicht wäre Lianne auch gestorben, wenn sie früher in ein Krankenhaus eingeliefert worden wäre. Die Ärzte hatten es ihr immer und immer wieder gesagt. Es war nicht nur der Blutverlust, der zum Tod geführt hatte, sondern auch die Schädigung der inneren Organe. Ein feiner, aber bedeutender Unterschied, vor allem in juristischer Hinsicht. Die bitteren Erinnerungen an Liannes Tod und das aktuelle Geschehen vor ihr auf der Straße hatten einander überlagert, Caroline hatte sie nicht mehr trennen können und war wie erstarrt stehen geblieben, bis der Hund sich an den Elch gewagt und begonnen hatte, das frische Blut aus dem Schnee aufzulecken, das aus dem Tier herauspulste. Sie war zurück ins Haus gerannt und hatte eines der Gewehre ihres Vaters geholt und auf dem Weg hinaus geladen. Ein gut plazierter Schuss, mehr war nicht nötig gewesen. Er hatte über den See gehallt und ihr in den Ohren gedröhnt, der Hund hatte wieder zu bellen begonnen, doch der Blutstrom war versiegt.
Dann erst, und das war ein Grund, weshalb der Schlaf sie so hartnäckig floh, war sie auf Ulf aufmerksam geworden, der reglos und mit geschlossenen Augen in seinem Wagen gesessen hatte. Mit zitternden Händen hatte sie das Gewehr abgestellt und die Wagentür aufgerissen, hatte das Blut auf seiner Stirn gesehen, das aus einer Platzwunde tropfte und bereits eine angetrocknete Spur über seine Wange gezogen hatte. Doch das Pochen seiner Halsschlagader hatte ihr gezeigt, dass er lebte, und so hatte sie ihm kurzerhand Schnee ins Gesicht gedrückt, um ihn zu sich zu bringen. Sie versuchte, nicht darüber nachzudenken, dass Ulf erfroren wäre, wenn der Hund nicht gebellt und sie auf den Unfall aufmerksam gemacht hätte. Wieder und wieder fragte sie sich, was Andra geträumt haben mochte. Rastlos wanderten ihre bedrückenden Gedanken, bis sie endlich der Schlaf übermannte. Ruhe fand sie allerdings nicht. Alpträume lösten die quälenden Gedanken ab. Sie merkte nicht, wie der Wind auflebte, dessen ersten Hauch Ulf noch gespürt hatte, bevor er ins Haus gegangen war. Schließlich schreckte sie hoch, weil heftige Böen an den Balken zerrten, als wollten sie sie aus den Verankerungen reißen. Zu dem Zeitpunkt war der Sturm schon längst in voller Stärke ausgebrochen. Im Dunkeln tastete sie nach ihrem Handy. Es war halb drei Uhr morgens. Sie hatte keinen Empfang. Der Hund reckte sich vor dem Bett, als er hörte, dass sie sich bewegte, und legte seine Nase auf ihr Kopfkissen. »Leg dich wieder hin«, befahl sie leise und kroch tiefer unter ihre Decke.
Sie hatte seit Tagen keine Wettervorhersage gehört, aber im Dorf war von einem heraufziehenden Unwetter die Rede gewesen, das allerdings erst für den kommenden Abend erwartet worden war. Sie starrte in die Dunkelheit und lauschte auf das Ächzen und Stöhnen des Hauses, als es mit einem Mal draußen vor ihrem Fenster entsetzlich krachte. Der Hund sprang auf und bellte. »Ruhig«, zischte sie, stieg aus dem Bett und trat mit bloßen Füßen ans Fenster, gegen das der Wind drückte und die Eiseskälte durch die Ritzen trieb. Außer wirbelnden weißen Flocken konnte sie nichts erkennen, aber sie ahnte, dass eine der alten Birken, die auf dieser Seite wuchsen, dem Sturm nicht standgehalten hatte.
Hastig zog sie sich etwas über und machte einen Rundgang durch das Haus, um zu kontrollieren, ob alles in Ordnung war. Vor der Eingangstür hatte sich ein Schneehaufen gebildet, und der Sturm drückte den Schnee durch die feinen Ritzen des Sicherheitsschlosses. Im Bad hatte der Wind das Fenster, das nie gut geschlossen hatte, aufgedrückt. Eisige Luft strömte ihr schon unter der Tür entgegen, bevor sie den Raum betrat. Es kostete sie einige Mühe, das sperrige Fenster zu schließen, doch schließlich gelang es ihr. Im Haus war es so kalt, dass sie ungeachtet der nächtlichen Stunde Feuer im Kamin machte. Sie wunderte sich, dass Ulf nicht aufgewacht war, aber er hatte früher schon einen so festen Schlaf gehabt, dass sie stets darüber gescherzt hatten, man könne eine Bombe neben seinem Bett zünden, ohne ihn zu wecken.
Der Hund legte sich zu ihr vor den Kamin, wo sie dicht am Feuer in eine Decke gehüllt sitzen blieb. Lange starrte sie in die tanzenden
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