Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
wach wurde. Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Wie, um Himmels willen, sollte sie ihm begegnen? Wenn er eigens aus Stockholm gekommen war, um sie zu verhaften, warum hatte er es nicht längst getan? Was hielt ihn ab? Zweifelte er an ihrer Schuld? Beobachtete er sie? Du kannst also immer noch schießen, hatte er gesagt, nachdem sie dem Elch den Gnadenschuss gegeben hatte. Diese und andere Äußerungen bekamen plötzlich eine andere Bedeutung. Erhielten Gewicht. Sie drückte die Wärmflasche fester auf ihren Bauch, als eine neue Welle der Übelkeit über sie hinwegspülte.
Das Bett nebenan knarrte. Er stand auf. Sie presste die Lippen aufeinander. Was sollte, was konnte sie tun?
*
Graues Tageslicht sickerte in den Raum. Sie war wieder eingeschlafen, und nun reckte sie sich müde. Das Erste, das sie bewusst wahrnahm, war das Heulen des Windes. Der Sturm tobte unvermindert weiter. Sie schlug ihre Decke zurück und stand auf. Das Display des Handys zeigte zehn Uhr.
Sie musste Ulf ins Dorf fahren und dann ihre Sachen packen und verschwinden. Ihr Geld würde gerade noch reichen, um auf dem Landweg bis Sankt Petersburg zu kommen. Sie kannte eine Familie dort. Ein Journalistenehepaar. Sie hatten jahrelang in Hamburg gelebt. Lianne war mit dem Sohn der beiden zur Schule gegangen. Caroline und Lianne hatten sie nach ihrer Rückkehr in Russland besucht und den Kontakt über die Jahre gehalten. Sie würde ihnen von unterwegs eine Mail schreiben. Raina und Boris würden ihr weiterhelfen.
Noch in Gedanken öffnete sie ihre Zimmertür und trat in den Flur. Das Licht hier war an, ebenso wie in der Küche, aber Ulf war nicht da. Nur ein benutzter Kaffeebecher stand auf dem Tisch, und in der Maschine war ein Rest Kaffee. Wo war Ulf? Wo war der Hund? In diesem Moment hörte sie über das Heulen des Sturms hinweg Schritte auf der Veranda, im nächsten Augenblick flog die Haustür auf, und ein Schwall eisiger Luft fegte herein. Sie schauderte. Der Hund sprang aus dem wirbelnden Weiß in den Flur, Rücken und Kopf bedeckt mit Schnee, gefolgt von Ulf, der fast bis zur Unkenntlichkeit vermummt war. In den behandschuhten Händen hielt er den bis an den Rand gefüllten Holzkorb, und auch er war über und über mit Schnee bedeckt. Caroline eilte zu ihm und drückte mit einiger Mühe die Tür hinter ihm ins Schloss. Augenblicklich wurde es still. Ulf stellte den Holzkorb ab und schüttelte sich beinahe ebenso wie der Hund neben ihm. »Es ist unmöglich draußen«, stieß er atemlos hervor. »Kein Meter Sicht. Ich hätte fast nicht zur Tür zurückgefunden.« Er schälte sich aus seiner Winterkleidung und rieb sich die Finger. Überall um ihn herum bildete der getaute Schnee nasse Pfützen auf dem Holzboden.
»Das heißt, wir sitzen hier fest?«, fragte sie entsetzt.
»Sieht ganz so aus.«
Ungläubig schüttelte sie den Kopf. »Ich bin heute Nacht von dem Sturm aufgewacht und hab Feuer gemacht, aber ich hätte nicht gedacht, dass es so schlimm wird …« Sie biss sich auf die Lippe. Sie waren eingesperrt. Ausgerechnet jetzt. Ausgerechnet sie beide. Es kam ihr vor wie ein schlechter Scherz. »Bist du schon lange wach?«, fragte sie.
Ulf stellte seine Stiefel unter die Heizung. »Schon eine ganze Weile«, gestand er. »Ich habe bei dir reingeschaut, aber du hast so fest geschlafen, dass ich dich nicht wecken wollte. Ich habe nur den Hund mit rausgenommen.«
Sie strich dem großen schwarzen Tier im Vorbeigehen über den Kopf. »Er hat dir heute Nacht das Leben gerettet«, sagte sie, mehr um Zeit zu gewinnen und ihre Gedanken zu sortieren als aus irgendeinem anderen Grund. »Wenn er nicht so gebellt hätte, hätte ich von deinem Unfall nichts bemerkt. Wie geht es dir überhaupt?«
Er fasste sich an die Stirn, wo die von ihr mit Pflastern fixierte Mullauflage über der Platzwunde lag. »Es ist okay, ich hatte Kopfschmerzen, aber ich hab im Bad Aspirin gefunden und eine genommen, allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ich mit den Folgen einer Gehirnerschütterung zu tun habe oder nicht doch eher den Nachwehen meines Alkoholkonsums.«
»Du warst ganz schön betrunken«, bestätigte sie.
»Habe ich mich schlecht benommen?«
»Nicht schlechter als früher«, entgegnete sie. »Du kannst froh sein, dass nichts Schlimmeres passiert ist.« Er benahm sich so normal, dass sie sich schon fragte, ob sie die ganze Episode mit dem Haftbefehl nur geträumt hatte, doch dann sah sie eine Ecke des Papiers in der Innentasche aufblitzen, als er seine
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