Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
Die Wolkendecke war aufgerissen, der Vollmond tauchte die tief verschneite Landschaft in helles, silbriges Licht, und ihre schmale Gestalt hob sich davor ab wie ein Schattenriss. Hastig warf er seine Jacke über. Kein Windhauch war zu spüren, und es war so still, dass seine Schritte im Schnee unnatürlich laut knirschten. Sie wandte sich um, als sie ihn hörte, und er sah die Tränenspuren auf ihren Wangen, ebenso wie die Spuren, die sein roher Griff um ihr Kinn hinterlassen hatten. Der Anblick zerriss ihm das Herz. In all den Jahren hatte er keine Frau geschlagen, warum hatte er ausgerechnet jetzt Caroline verletzt, ausgerechnet sie? »Himmel, Lilli, es tut mir so leid, ich wollte dir nicht weh tun …« Seine Stimme schwankte bedrohlich. »Kannst du … mir verzeihen?«
Sie sah ihn lange schweigend an, dann nickte sie so abrupt und kurz, dass er nicht wagte, noch etwas zu sagen. Er ließ seinen Blick über die in Frost erstarrten Wälder und den See wandern und versuchte, nicht daran zu denken, dass am nächsten Tag Räumfahrzeuge diesen Frieden stören würden. Einen Atemzug lang meinte er fast, bereits ihren Lärm zu hören und die Stimmen der Menschen, die ihnen folgten. Die Fragen, die es geben würde. Die fragile Verbindung zwischen Caroline und ihm würde reißen. Er würde sie verlieren. Und er konnte nichts dagegen tun. Er konnte sie nicht zwingen, sich freiwillig den Behörden zu stellen, und gegen ihren Willen würde er sie nicht ausliefern. Die Ausweglosigkeit der Situation ließ ihn verzweifeln. »Wie kann ich dich gehen lassen?«, brach es aus ihm heraus. »Weiterleben, als hätte es diese drei Tage mit dir nicht gegeben? Wie stellst du dir das vor?« Er schluckte hart. Himmel, er hatte nicht mehr geweint seit … sie ihn damals verlassen hatte.
Langsam wandte sie sich ihm zu. »Wäre es besser, wir hätten uns gar nicht getroffen?«
Er schüttelte den Kopf, unfähig zu antworten, streckte zögernd eine Hand aus und berührte die Abdrücke, die seine Finger in ihrem Gesicht hinterlassen hatten, als könne er sie wegstreichen, vergessen machen, was geschehen war. Sie rührte sich nicht, fast war ihm, als hielte sie den Atem an, doch dann legte sie ihre Hand auf die seine und drückte sie gegen ihr Gesicht. »Ich möchte diese Tage mit dir nicht missen«, sagte sie leise. »Ich bin froh, dass der Sturm uns diese Zeit geschenkt hat …«
»Ist das wirklich so?«, fragte er hoffnungsvoll.
Sie nickte, und er versuchte, das Gefühl der Leichtigkeit, der plötzlichen Dankbarkeit, festzuhalten, die ihre Worte und ihre Berührung in ihm auslösten, aber es gelang ihm nicht, denn auch dieser Moment, wie alles, was sie miteinander erlebten, wie jede Empfindung, die sie teilten, trug den bitteren Geschmack des Abschieds in sich.
Aber diese eine Nacht gehörte noch ihnen. Niemand würde vor dem Morgen in ihre Welt eindringen. Niemand würde sie stören. In Carolines Augen sah er, dass sie seinen Gedanken teilte, und in stillem Einvernehmen gingen sie zurück ins Haus. Der Hund sprang ihnen voraus, Caroline fütterte ihn in der Küche, dann bereiteten sie sich selbst etwas zu und aßen im Kerzenschein vor dem offenen Kaminfeuer im Wohnzimmer. Sie sprachen wenig. Was gab es zu sagen, das nicht längst gesagt war? Auf dieselbe stille Art liebten sie sich in dieser Nacht, völlig ohne Eile, dafür aber mit verstörender Intensität, jeder verloren in der Nähe des anderen.
Es war nicht vernünftig, was sie taten. Sie wussten es beide. Jedes Mal, das sie miteinander schliefen, machte ihre zwangsläufige Trennung unerträglicher. Und ihnen blieb so wenig Zeit. Ulf war, als rinne sie ihm zwischen den Fingern hindurch, die Stunden rasten, und jede Sekunde Schlaf erschien ihm vergeudet. »Lilli, ich liebe dich«, flüsterte er im Morgengrauen, die Stimme rauh vor Übermüdung und Emotion. Er spürte ihr Lächeln mehr, als dass er es sah, fühlte, wie sie sich an ihn schmiegte, so dicht, als wolle sie eins mit ihm werden. »Wenn wir den Tag einfach aussperren könnten«, erwiderte sie leise, doch das erste Licht stahl sich bereits durch die Fenster. Sie versuchten, es zu ignorieren, ebenso wie die Kälte, die sich allmählich ausbreitete, weil das Feuer ausgegangen war, doch dann zerriss ein Geräusch die Stille, das allen Zauber brach und sie jäh in die Realität zurückkatapultierte: das Klingeln von Ulfs Mobiltelefon.
26.
D ie plötzliche Stille weckte auch Maybrit auf, die sich für eine kurze Ruhepause
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