Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
begriffen, was sie getan hatte. Sie hatte auf einen Menschen geschossen. Krachend war der Revolver neben ihr auf dem Parkett aufgeschlagen, und sie hatte sich neben Alexander Molinan gekniet, hatte ihm das Hemd aufgerissen und seinen Kopf auf ein Kissen gebettet und mit wachsender Panik mit angesehen, wie das Leben aus dem Mann wich, der ihre Tochter überfahren hatte. In seinem Todeskampf hatte er die Fäuste geballt, und das Geräusch, mit dem seine Fingernägel dabei über das Parkett kratzten, war ihr durch und durch gegangen. Er durfte nicht sterben, das war das Einzige, woran sie denken konnte. Sie hatte nach dem Telefon gegriffen, um einen Notarzt zu rufen, doch in diesem Moment war der dünne Blutstrom in seinem Mundwinkel versiegt, und seine Augen waren glasig geworden. Tränen waren ihr gekommen und kamen ihr auch jetzt wieder. Sie wischte sie ungelenk weg und suchte Ulfs Blick. »Wenn ich bei klarem Verstand gewesen wäre, hätte ich nie auf ihn geschossen, aber ich war es nicht.« Sie presste die Lippen aufeinander. »Ich war wütend, verzweifelt … rasend …«
Schweigend setzte er sich zu ihr und hielt ihre Hände. »Jeder psychologische Gutachter wird dir verminderte Schuldfähigkeit attestieren. Du wirst niemals wegen Mordes verurteilt werden, es wird auf Totschlag im Affekt hinauslaufen.«
Sie lachte bitter auf. »Spielt das noch eine Rolle? Ein paar Jahre mehr oder weniger …« Sie entzog ihm ihre Hände und stand auf, trat an den Kamin und stocherte im Feuer herum. Das Haus schien ihr mit einem Mal zu eng für sie beide. Sie wollte allein sein, rausgehen, die kalte Luft in ihren Lungen spüren und die Sonne sehen. Nur so würde sie klar denken können. Aber draußen tobte der Sturm, und das Grau des Tages ging bereits wieder in die Dunkelheit der Nacht über.
Sie legte Holz nach.
»Was hast du mit der Waffe gemacht?«, hörte sie Ulfs Stimme durch das Knistern der Scheite. Ihre Finger krampften sich um den Schürhaken. Seine Fragen zermürbten sie. Die Waffe ist fort, wollte sie sagen, wie alles andere. Wie auch ich bald. Sie tat es nicht. Stattdessen legte sie den Schürhaken weg, stand auf und trat an den großen Schrank, der im hinteren Teil des Wohnzimmers stand, und öffnete eine der Schubladen. Mitten zwischen den Damast-Tischdecken hatte auch ihr Vater seinen Revolver immer aufbewahrt. Die Eltern hatten jedes Mal Streit bekommen, wenn ihre Mutter ihn dort fand. Flüchtig berührten Carolines Finger die gestärkten Stoffe, bevor sie sich um den kalten schwarzen Stahl des Revolvers schlossen.
Ulf wog ihn in seiner Hand und überprüfte das Magazin. »Er ist immer noch geladen«, stellte er fest.
»Es fehlt nur eine Kugel.« Sie rieb sich nervös die Hände an ihrer Jeans. Der Anblick der Waffe war ihr zuwider. Doch sie wollte nichts sagen, Ulfs Aufmerksamkeit nicht noch mehr auf das lenken, was geschehen war, und deshalb schwieg sie, als er den Revolver auf den Couchtisch legte. Sie versuchte, die Waffe nicht anzusehen.
»Du hast gesagt, dass du den Notarzt rufen wolltest, aber es gab keine Fingerabdrücke«, stellte er fest. »Im ganzen Büro nicht.«
Wann hörte er endlich auf? »Ich habe alles abgewischt«, erwiderte sie knapp. »Ich war in Panik.« Sie hatte verzweifelt nach einem Tuch gesucht, um alles zu reinigen, was sie berührt hatte, und als sie endlich eins gefunden hatte, hatten ihre Hände so gezittert, dass sie beinahe eine Vase vom Schreibtisch geworfen hätte. Bei jedem Türklappen, jedem menschlichen Laut, der aus dem Gebäude in das Büro gedrungen war, war sie zusammengezuckt, und als sie endlich das Haus verlassen hatte, war sie voller Angst gewesen, gesehen zu werden. Aber niemand hatte sie beachtet, niemand ahnte von dem Toten, den sie im zweiten Stock des nichtssagenden Geschäftshauses zurückgelassen hatte. Es war, als wäre nichts geschehen. Das Licht der Straßenlaternen hatte sich in den Regenpfützen gespiegelt, Menschen waren mit hochgezogenen Schultern vorbeigehastet, und sie hatte sich mittragen lassen in ihrem Fluss, war ziellos durch die Stadt geirrt, bis ihre Kleidung völlig durchnässt und ihre Schuhe vom Regen aufgeweicht waren. Halb erfroren und völlig erschöpft hatte sie schließlich vor der eigenen Haustür gestanden und sich gefragt, wie viele Dramen sich hinter den verschlossenen Fenstern und Türen der Häuser Hamburgs abspielten, von denen nie jemand erfuhr.
Sie zog die Strickjacke, die sie über den Pullover gezogen hatte, enger um
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