Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
hingelegt hatte. Gespannt lauschte sie in die hereinbrechende Dunkelheit, dann stand sie hastig auf, warf sich eine Jacke über und eilte zur Tür. Bittere Kälte schlug ihr entgegen, als sie hinaustrat. Ihr Atem kondensierte in dichten Wolken, doch kein Geräusch durchdrang die hereinbrechende Dämmerung, und über den Bergen hing an einem wolkenlosen Himmel die silbrig runde Scheibe des Vollmonds. Erleichtert seufzte sie auf und wollte gerade zurück ins Haus gehen, als sie in der Ferne das Brummen der Räumfahrzeuge hörte. Die Aufräumarbeiten hatten bereits begonnen.
Als sie wenig später zurück in das Gemeinschaftshaus des Dorfes kam, stellte sie fest, dass mehr als die Hälfte der Schutzsuchenden in ihre Häuser zurückgekehrt waren. Nur diejenigen, die weiter außerhalb wohnten, waren noch da und halfen, Tische und Bänke zusammenzuschieben und das Abendessen vorzubereiten. In der Küche traf Maybrit auf Björns Mutter. Alma Nyborg hatte eine Schürze umgebunden und füllte Mehl in eine Rührschüssel. »Ah, Maybrit, gut, dass du wieder da bist«, begrüßte die alte Dame sie. »Ich dachte, ich mache für die Kinder noch ein paar Pfannkuchen zum Abendbrot.«
Maybrit gab Alma einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Ich nehme auch gern welche.«
Alma lachte auf. »Björn hat sich ebenfalls zum Essen angemeldet.«
»Wie geht es ihm?«, wollte Maybrit wissen. Seit er in der Nacht nach Hause gefahren war, hatte sie ihn nicht mehr gesehen.
»Er hat ein paar Stunden geschlafen und ist dann wieder raus«, erwiderte Alma und blickte zum Fenster auf den beleuchteten Vorplatz hinaus. »So viel Schnee hatten wir bestimmt schon fünfzehn Jahre nicht mehr, und den größten Teil des Winters haben wir noch vor uns.«
»Die Arbeit wird in den nächsten Tagen kaum weniger werden«, bemerkte Maybrit. »Bis alle Straßen wieder frei sind, ist viel zu tun. Eine Menge Häuser sind nach wie vor von der Außenwelt abgeschnitten, und die Stromleitungen sind überall unterbrochen.«
»Denkst du an deinen Cousin Ulf?«, fragte Alma. »Björn hat erzählt, dass er mit Lilli in ihrem Haus eingeschneit ist.«
Maybrit seufzte unwillkürlich. »Ja, auch an ihn habe ich gedacht.«
Alma verschloss die Mehltüte, stellte sie in den Schrank und öffnete den Kühlschrank, um Eier und Milch herauszuholen. Sie strahlte Gelassenheit und Routine aus, und Maybrit empfand es erstaunlich beruhigend, ihr einfach nur zuzusehen.
»Ist es nicht traurig, wie viele Jahre die beiden verloren haben?«, plauderte Björns Mutter weiter, während sie die Zutaten mit einem Schneebesen zu einem Teig verrührte. »Aber vielleicht haben sie jetzt Gelegenheit gehabt, sich auszusprechen.«
Maybrit horchte auf. »Wie meinst du das?«
Alma ließ den Schneebesen sinken und strich sich mit der freien Hand das zu einem Knoten geschlungene graue Haar glatt. Sie sah Maybrit nachdenklich an. »Lilli ist damals nicht freiwillig von hier fortgegangen«, sagte sie schließlich.
»Wie bitte?« Maybrit glaubte, nicht richtig zu hören.
»Ich dachte mir, dass du nichts davon weißt.« Alma wandte sich wieder dem Teig zu.
Maybrit betrachtete die alte Frau mit gerunzelter Stirn. »Warum erzählst du mir erst jetzt davon?«
Alma stellte die Rührschüssel ab und wischte sich die Hände an ihrer Schürze sauber. »Ich hätte nicht davon angefangen, wenn Lilli nicht zurückgekehrt wäre, aber nun, denke ich, ist es an der Zeit, ein paar Dinge geradezurücken.«
»Vielleicht sollten wir uns setzen«, schlug Maybrit vor, doch Alma schüttelte den Kopf. »Wir können auch sprechen, während ich hier weitermache. Die Kinder warten auf die Pfannkuchen.« Sie warf Maybrit einen eindringlichen Blick zu. »Es wird dir nicht gefallen, was ich dir jetzt sage.«
Alma hatte recht. Es gefiel Maybrit überhaupt nicht, was sie ihr anvertraute. Schweigend lauschte sie, während das Fett immer wieder aufs Neue in der Pfanne zischte und sich der Qualm in der Küche ausbreitete. Was Maybrit erfuhr, war nicht nur schmerzlich, es gab ihr zudem eine völlig neue Sicht auf die Ereignisse vor bald drei Jahrzehnten und die Menschen, die damit in Verbindung standen. Wut und Hilflosigkeit bemächtigten sich ihrer angesichts des Betrugs, dem sie selbst erlegen war, und der Loyalitäten, die sie deswegen nach all den Jahren plötzlich in Frage stellen musste. Alma bemerkte es wohl. »Es geht selten gut aus, wenn Menschen meinen, sie müssten sich ungefragt in das Leben anderer einmischen.« Ihre
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