Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
wirklich verstehen.
Håkan hatte nie viel darüber gesprochen, nicht einmal mit Mette, schon um seinem Freund und Kollegen nicht in den Rücken zu fallen, doch auch er empfand Ulfs Umgang mit dem anderen Geschlecht trotz aller Höflichkeit und Galanterie als respektlos, und er hatte sich immer gefragt, was zu Ulfs völliger Beziehungsunfähigkeit geführt haben mochte. Jetzt hatte er zumindest eine Ahnung.
Er blickte auf das Foto von Caroline Wolff vor sich auf der Schreibtischunterlage. Die Hamburger Polizei hatte es ihm geschickt. Es zeigte eine zierliche, blonde Frau, durchaus attraktiv, aber alles andere als außergewöhnlich. Er versuchte sich vorzustellen, wie sie vor knapp dreißig Jahren ausgesehen haben mochte und was sie und Ulf verband. Ulf hatte nie viel erzählt von früher. Håkan selbst war in Stockholm aufgewachsen, und die Vorstellung, in der ungezähmten Wildnis des Nordens groß zu werden, faszinierte ihn, und er hatte seinen Kollegen gelöchert, doch Ulf hatte sich nur selten zu Geschichten hinreißen lassen. Einmal waren sie zusammen mit Mette und den Mädchen in Ulfs Heimatdorf gefahren und hatten Mittsommer bei dessen Eltern verlebt, Tage, die Håkan schon ob des ungewöhnlichen Lichts als verwunschen in Erinnerung geblieben waren. Wieder betrachtete er die Fotografie von Caroline Wolff. Verwunschen war vielleicht auch für sie der richtige Begriff. Es lag etwas in ihrem Ausdruck, das ihn an Shakespeares Mittsommernachtstraum denken ließ, etwas von der Unberechenbarkeit des Feenvolkes. Vielleicht war es das, was Ulf in Bann gezogen hatte. Und vielleicht war es auch diese Unberechenbarkeit, die sie fähig gemacht hatte zu töten. Schließlich erlitten täglich Menschen Verluste wie sie, ohne deswegen zur Waffe zu greifen.
Er legte die Fotografie in die Fallakte zurück und verstaute diese in der Reisetasche, die Mette ihm per Taxi geschickt hatte. Dann warf er einen Blick auf seine Uhr. Es war kurz nach neunzehn Uhr, Zeit aufzubrechen. Vor knapp einer Stunde war die Meldung hereingekommen, dass sich der Sturm im Norden so weit gelegt hatte, dass Rettungsmannschaften und Gerät zur Unterstützung in die Krisenregion eingeflogen werden konnten. Håkan hatte sich umgehend in einem der Hubschrauber einen Platz gesichert.
Auf dem Weg nach draußen passte ihn Bent von der Drogenfahndung vor dem Fahrstuhl ab. »Es geht mich eigentlich nichts an«, begann er und strich sich über seinen dichten Bart, »aber ich hab gehört, du fliegst nach Härjedalen … zu Ulf.« Er räusperte sich. »Gibt es Probleme?«
Bent und Ulf hatten einige Jahre zusammengearbeitet, bevor Ulf in die Sondereinheit befördert wurde. Håkan wusste, dass sie befreundet waren, dennoch zögerte er. »Es ist eine längere Geschichte«, wich er aus. »Es hat etwas mit Ulfs Vergangenheit in Nordschweden zu tun.« Er machte eine entschuldigende Geste.
»Verstehe«, entgegnete Bent mit einem Nicken. »Ich hab mir nur Sorgen gemacht, weil er Hals über Kopf verschwunden ist.« Auch Bent war mit Ulfs düsteren Momenten vertraut.
Håkan hielt dem bärtigen Drogenfahnder die Hand hin. »Ich bringe ihn wieder mit zurück nach Stockholm. Versprochen.«
Bent schlug mit seiner Bärenpranke ein und grinste. »Ich habe nichts anderes erwartet. Wir sehen uns!«
Auf dem Weg zum Flughafen rief Håkan bei Mette an. »Am liebsten würde ich mitkommen«, gestand sie.
»Ich melde mich morgen, sobald ich mehr weiß, in Ordnung?«
»Ja, natürlich. Pass auf dich auf.« Håkan hörte Geschirr im Hintergrund klappern. Vermutlich räumte sie gerade die Spülmaschine aus, und er sah sie vor sich, den Hörer eingeklemmt zwischen Ohr und Schulter, und hatte mit einem Mal heftige Sehnsucht nach ihr. »Ich liebe dich, Mette.«
»Ich dich auch, Håkan. Bis morgen.«
Den Klang ihrer Stimme noch im Ohr, zog er einen Zettel aus seiner Brieftasche und wählte die Nummer, die er sich aufgeschrieben hatte. Er musste es lange klingeln lassen und wollte schon wieder auflegen, als sich eine dunkle Frauenstimme meldete. »Svensson.«
»Hallo, Maybrit, hier spricht Håkan Bergström.«
Einen Moment war Schweigen am anderen Ende der Leitung.
»Håkan«, sagte Maybrit dann jedoch, »Ulfs Kollege aus Stockholm, richtig?«
»Ja«, bestätigte er. »Ich wollte hören, ob ich Ulf bei dir erreiche.«
»Tut mir leid«, entgegnete sie. »Hast du es schon auf seinem Handy probiert?«
»Da scheint es noch keinen Empfang zu geben.«
»Das wundert mich nicht. Wir
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