Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
bei den vorherigen Versuchen nahm sie den Anruf nicht an. Er wusste nicht, warum, aber er hatte kein gutes Gefühl, wenn er an sie dachte.
30.
U lfs Aufschrei klang Caroline noch in den Ohren, als sie das Haus längst nicht mehr sehen konnte. Vor ihr öffnete sich der See mit seiner weiten schneebedeckten Fläche so hell im Sonnenlicht, dass sie die Augen zusammenkneifen musste. Sturm und Schnee hatten die Landschaft verzaubert, alle Spuren getilgt, als ob kein Mensch je seinen Fuß auf diesen Boden gesetzt hätte. Und als wäre er nie an einem anderen Ort gewesen, als hätte er hier auf sie gewartet, saß auf dem Pfeiler am Ufer der Bussard und putzte sein braunes Gefieder. Seine gelben Krallen gruben sich in das vereiste Holz, und sein Blick traf sie, bevor er aufflog und mit einem langgezogenen Ruf über den See davonflog. Was für eine Verlockung, an einem solchen Tag schwerelos dahinzugleiten.
Ohne Zögern folgte sie ihm auf den See hinaus, kämpfte sich durch den hohen Schnee, wollte weitergehen, immer weiter, und eins werden mit dem Land, das sie so sehnlichst vermisst hatte, und mit einem Mal schien es ihr, als wären auch ihre Eltern in diesem Land aufgegangen, selbst Lianne, die weder die Berge noch den See jemals gesehen, aber doch hier ihre Wurzeln gehabt hatte. Müdigkeit zerrte an Carolines Gliedern, machte sie schwer und ließ jeden Schritt zu einer Willensanstrengung werden. Sie stolperte und fiel, versank in glitzerndem Weiß und spürte, wie die Kälte aus dem Eis zu ihr aufstieg und sie sanft einhüllte wie ein Mantel. Sie war versucht, sich ihr hinzugeben, es an dieser Stelle geschehen zu lassen, doch sie zwang sich, wieder aufzustehen. Sie war noch zu nah am Haus, sie musste weiter. Ulf durfte sie nicht finden.
Ulf! Die Landschaft um sie herum verschwamm angesichts der Wucht der Gefühle, die allein der Gedanke an ihn auslöste. Während sie weitertaumelte, meinte sie zu spüren, wie er sie hielt, meinte seine leise geraunten Worte zu hören, wenn er sie küsste, liebte … und dann sah sie das Entsetzen in seinen Augen, als er begriff, dass sie ging, sah ihn dort stehen an der Couch im Wohnzimmer. Tränen liefen über ihre Wangen. Wieder fügte sie ihm Schmerz zu. Wieder verließ sie ihn. Was hätte sie gegeben, um bei ihm bleiben zu können! Aber es war vorbei. Zu spät. Sie hatte alles verloren. Sie konnte nicht zurück. Lianne war ihr Leben gewesen, selbst als junge erwachsene Frau, die ihre eigenen Wege gegangen war. Allein das Wissen, dass es sie gab, dass sie lachte, träumte, das Leben genoss, war Caroline genug gewesen. Nach ihrem Tod war nichts geblieben. Nur Leere. Eine Leere so dicht und kalt wie eine Nebelwand. Hier am See hatte sie diese Leere vorübergehend vergessen können, aber es war nur ein Aufschub gewesen. Sie hatte die ganze Zeit geahnt, dass das Glück und der unerwartete Frieden, den sie verspürt hatte, nicht von Dauer sein konnten. Glück war immer flüchtig geblieben in ihrem Leben. »Das liegt daran, dass du ihm misstraust, dass du dich nicht darauf einlassen kannst«, hatte Thomas ihr vor ein paar Tagen erst vorgeworfen. Sie hatte dazu geschwiegen. Was hätte sie auch sagen sollen? Dass es nur einen Menschen gab, mit dem sie es gewagt hatte, ohne Rückhalt glücklich zu sein? Selbst jetzt, nach Liannes Tod, war es mit ihm möglich gewesen, und wie immer, wenn sie an ihn dachte, fuhr ihre Hand zum Hals, zu dem Ring, der dort unter der Kleidung auf ihrer Haut lag, und sie wünschte sich, Ulf wäre bei ihr und würde sie halten, bis es so weit war, sie einhüllen in seine wilde, mitreißende Liebe. War es nicht verrückt, dass kein Mann es geschafft hatte, ihn aus ihrem Herzen zu verdrängen?
Die Berge am anderen Ufer des Sees verschwammen vor ihren Augen. Sie blinzelte, aber es waren keine Tränen, die ihre Sicht verschleierten. Die Beine gaben unter ihr nach, und sie sackte zusammen. Diesmal gelang es ihr nicht, sich noch einmal aufzuraffen. Sie war müde, so entsetzlich müde, dass sie nicht einmal die Kälte spürte, die ihre Gliedmaßen taub werden ließ, die in sie hineinkroch und lähmte und ihr Blut zäh und schwer machte. Gebettet in Wolken von Schnee lag sie still auf dem Rücken und sah in den Himmel, in das weite, wunderbar strahlende Blau und lauschte auf den Ruf des Bussards.
31.
D er Hund leckte sein Gesicht.
Ulf spürte das Gewicht des großen Tiers auf seinem Oberkörper und versuchte, ihn wegzudrücken, aber bei der kleinsten Bewegung schoss
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