Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
war nicht unberechtigt. Sobald sie aus dem Hubschrauber herauskletterte, versank Maybrit bis zu den Hüften im kalten Weiß und kämpfte sich in den Fußspuren der Männer in Richtung Ufer. Es war totenstill hier draußen. Das Haus lag vor ihnen, die großen Fenster zur Hälfte zugeschneit, kein Rauch kräuselte sich aus dem Schornstein in den blauen Himmel, nichts rührte sich. Eine kalte Hand griff nach Maybrits Herz. Was, wenn Ulf und Caroline beide tot waren? Sie hatte seit ihrer Kindheit nicht mehr gebetet, aber jetzt schickte sie instinktiv ein Stoßgebet zum Himmel.
Sie erreichten die Treppe zur Veranda. »Hier sind frische Fußspuren«, sagte der Rettungssanitäter. »Sie führen runter zum See.«
»Wieso haben wir sie unten nicht gesehen?«, wollte Maybrit wissen.
»Der Hubschrauber dürfte den Schnee verwirbelt und alle Spuren verwischt haben«, mutmaßte Björn. Er öffnete die Haustür. »Hallo?«, rief er. »Ulf? Lilli?«
Keine Antwort.
Maybrit sah, wie er die Lippen aufeinanderpresste. Dann verschwand er zusammen mit dem Sanitäter im Haus. Sie wollte ihm folgen, doch Håkan hielt sie zurück. Irritiert versuchte sie, seine Hand abzuschütteln. »Warte einen Moment«, bat er sie.
»Warum?«, entfuhr es ihr ungehalten.
»Es könnte Dinge geben, die du besser nicht siehst.«
Sie wusste nicht, was stärker war, ihre Wut oder ihr Entsetzen. »Ich bin kein kleines Kind mehr«, gab sie ihm zu verstehen. Darauf zuckte er mit den Schultern und ließ ihr den Vortritt.
Im Haus schien es noch stiller als draußen. Im Flur auf dem Boden gleich neben der Tür lag ein Gewehr, sie wäre fast darüber gestolpert. Sie eilte weiter zum Wohnzimmer, von wo sie die leisen Stimmen von Björn und Magnus, dem Sanitäter, hörte. Doch bereits in der Tür prallte sie zurück. Eine große Blutlache bedeckte den Boden hinter der Couch, Carolines Hund lag reglos darin, weitere Spuren von angetrocknetem Blut zogen sich an der Couch entlang.
»Oh, mein Gott«, entfuhr es ihr, und sie schlug die Hände vor den Mund. Ihre Knie begannen zu zittern, und sie musste sich an der Wand abstützen, um nicht zu stürzen. Zwischen der Couch und dem Kamin lag Ulf. Der Sanitäter in seinem leuchtend orangefarbenen Overall kniete neben ihm, Björn hockte mit kalkweißem Gesicht auf der anderen Seite, jederzeit bereit, anzupacken, wo es nötig war.
Lebt er, atmet er?, wollte sie fragen, aber sie brachte keinen Ton heraus. Ulfs Augen waren geschlossen, sein Gesicht unnatürlich blass. Unsicher machte sie einen Schritt auf ihn zu, dann noch einen und noch einen. Björn sah zu ihr auf, und sie wusste, was ihm durch den Kopf ging. Sie hatten das Unglück beide kommen sehen. Sie werden erst miteinander schlafen und sich dann gegenseitig umbringen. In ihrer aus Hilflosigkeit geborenen Hysterie hatten sie darüber gelacht. Jetzt lag Ulf vor ihnen. Als sie neben ihm stand, bemerkte sie das kaum wahrnehmbare Heben und Senken seines Brustkorbs. Er lebte. Aber wie lange noch?
»Wir müssen ihn sofort in ein Krankenhaus bringen. Er wird es sonst nicht schaffen«, erklärte der Sanitäter, als hätte er ihre unausgesprochene Frage gehört. »Er hat zu viel Blut verloren.«
Maybrit blickte auf Håkan, der neben der Couch stand, das Gewehr in Händen. »Sie hat auf ihn geschossen«, sagte der Mann aus Stockholm. »Und wir wissen nicht, wo sie ist.«
33.
D er Polizist in Håkan übernahm die Führung. Nur so gelang es ihm, Abstand zu halten und die Situation zu bewältigen, denn es ging um das Leben seines engsten Freundes und Kollegen. Er musste die Ruhe bewahren, sich darauf konzentrieren, Caroline Wolff zu finden und in Gewahrsam zu nehmen. Solange er nicht wusste, was sie umtrieb, musste er damit rechnen, dass weitere Menschen zu Schaden kamen.
Noch vor dem Rettungssanitäter hatte er ihre Spuren im Schnee entdeckt. Sie führten fort vom Haus, und der Schrittabstand war groß. Sie hatte es sehr eilig gehabt. Ob Ulf geahnt hatte, wie skrupellos sie war? Sie hätte ihn verbluten lassen. Was zum Teufel ging in dieser Frau vor, was brachte sie dazu, auf diese Weise zu agieren?
Es hatte keinen Kampf gegeben, aber neben der Wohnzimmertür lag ein Revolver auf dem Fußboden, und Håkan war sich sicher, dass er Ulfs Fingerabdrücke darauf finden würde. In der Küche suchte er in den Schränken nach Gefrierbeuteln und verstaute die Waffe, die er mit einem Papiertaschentuch behutsam vom Boden aufnahm, in einem der Beutel. Maybrit hatte ihm erzählt,
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