Dein Wille geschehe - Dein Wille geschehe - Shatter
Spielplatz oder auf einer vollen Straße sein Kind aus den Augen zu verlieren. Zwei Minuten werden zu einer Ewigkeit. Nach zwei Stunden ist man praktisch zu allem fähig. Für Maureen war es noch schlimmer. Sie musste zuhören, wie ihr Sohn um Hilfe rief, und sich dabei vorstellen, dass er Schmerzen und den Tod erlitt. Der Anrufer hat ihr gesagt, sie werde Jackson nie wieder sehen, nie seine Leiche finden, nie die Wahrheit erfahren.
Ich sage, dass ich sie verstehe.
»Wirklich?«, fragt sie.
»Ich glaube schon.«
Sie schüttelt den Kopf und blickt auf ihre verletzte Schulter. »Ich glaube nicht, dass irgendjemand das verstehen kann. Ich hätte mir den Lauf der Waffe auch in den Mund geschoben. Ich hätte abgedrückt. Ich hätte alles getan, um Jackson zu retten.«
Ich setze mich auf einen Stuhl neben ihrem Bett.
»Haben Sie die Stimme erkannt?«
Sie schüttelt wieder den Kopf. »Aber ich weiß, dass es Gideon war.«
»Woher?«
»Er hat nach Helen gefragt, wollte wissen, ob sie geschrieben, angerufen oder mir eine Mail geschickt hätte. Nein, habe ich ihm erklärt. Ich habe gesagt, dass Helen tot ist und dass es mir leidtut, aber er hat gelacht.«
»Hat er gesagt, warum er glaubt, dass sie noch lebt?«
»Nein, aber er hat auch mich überzeugt.«
»Wie?«
Sie sucht stockend nach Worten. »Er war sich so sicher.«
Maureen wendet den Blick ab und sucht eine Ablenkung. Sie will nicht mehr über Gideon Tyler reden.
»Helens Mutter hat mir eine Karte mit Besserungswünschen geschickt«, sagt sie und zeigt auf den Nachttisch. Sie dirigiert mich zu einer Karte mit einer handgemalten Orchidee in Pastellfarben. Claudia Chambers hat geschrieben:
Manchmal führt Gott die besten Menschen in Versuchung, weil er weiß, dass sie widerstehen werden. Unsere Gedanken und Gebete sind bei dir. Werde bitte ganz schnell gesund.
Ich stelle die Karte wieder auf den Tisch.
Maureen hat die Augen geschlossen und verzieht vor Schmerzen das Gesicht. Die Wirkung des Morphiums lässt nach. Irgendeine Erinnerung steigt auf und schafft sich Raum. Sie öffnet den Mund.
»Mütter sollten immer wissen, wo ihre Kinder sind.«
»Warum sagen Sie das?«
»Das hat er zu mir gesagt.«
»Gideon?«
»Ich dachte, er wollte mich verhöhnen, aber ich bin mir nicht mehr sicher. Bei allem, was er gesagt hat, war es vielleicht das Einzige, was keine Lüge war.«
48
Die Anwaltskanzlei Spencer, Rose & Davis liegt in einem modernen Büroblock gegenüber der Guildhall neben den Gerichten. Das Foyer sieht aus wie eine moderne Zitadelle und erhebt sich fünf Stockwerke hoch bis zu einem gewölbten Glasdach, das von einem Zickzack aus weißen Rohren durchzogen wird.
Es gibt einen Wasserfall, einen Teich und einen Wartebereich mit schwarzen Ledersofas. Ruiz und ich beobachten einen Mann im Nadelstreifenanzug, der in einem gläsernen Doppellift auf unsere Ebene herabschwebt.
»Siehst du den Anzug von dem Typen?«, flüstert Ruiz. »Der ist mehr wert als meine komplette Garderobe.«
»Meine Schuhe sind mehr wert als deine komplette Garderobe«, erwidere ich.
»Das ist brutal.«
Der Mann im Nadelstreifenanzug spricht kurz mit der Empfangssekretärin und kommt, seine Jacke aufknöpfend, auf uns zu. Er stellt sich nicht vor, sondern fordert uns lediglich auf, ihm zu folgen.
Der Fahrstuhl trägt uns nach oben. Die Topfpflanzen werden kleiner, die Koikarpfen schrumpfen zu Goldfischen.
Wir werden in ein Büro geführt, in dem ein über siebzigjähriger Anwalt hinter einem großen Schreibtisch sitzt, der ihn noch eingefallener aussehen lässt. Er erhebt sich ein paar Zentimeter von seinem Lederstuhl und setzt sich wieder, entweder zum Zeichen seines Alters oder des Maßes an Respekt, den uns entgegenzubringen er bereit ist.
»Ich bin Julian Spencer«, stellt er sich vor. »Ich vertrete
Chambers Construction und bin ein alter Freund von Bryans Familie. Mr. Chambers haben Sie ja bereits kennengelernt.«
Bryan Chambers bietet uns nicht die Hand an. Er trägt einen Anzug, den kein Schneider der Welt bequem aussehen lassen könnte. Manche Männer sind einfach dazu gemacht, Overalls zu tragen.
»Ich glaube, die Umstände waren ein wenig unglücklich«, sage ich.
»Sie haben sich mit einem Trick Zutritt zu meinem Grundstück verschafft und meine Frau beunruhigt.«
»In diesem Fall bitten wir um Entschuldigung.«
Mr. Spencer versucht, die Wogen zu glätten, indem er Mr. Chambers schnalzend zur Ruhe ermahnt wie ein Schuldirektor.
Ein alter Freund
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