Dein Wille geschehe - Dein Wille geschehe - Shatter
Gideon rannte ihnen die Einfahrt hinunter nach, aber sie bremste nicht. Beim Einbiegen in die Straße flog Chloes Tür auf. Meine Enkelin rutschte durch
den Sicherheitsgurt. Helen packte sie und zog sie wieder in den Wagen. Dabei hat sie Chloes Arm gebrochen, aber sie ist nicht stehen geblieben, sondern immer weiter gefahren, weil sie die ganze Zeit dachte, dass Gideon sie verfolgen würde.«
Bryan Chambers atmet geräuschvoll ein und hält die Luft an. Eigentlich will er aufhören zu reden. Er wünscht sich, dass er das schon vor zehn Minuten getan hätte, aber die Geschichte hat eine Eigendynamik, die sich nicht so leicht aufhalten lässt.
Statt nach Calais fuhr Helen in die entgegengesetzte Richtung, nach Österreich und weiter nach Italien. Sie hielt nur zum Tanken. Von einer Autobahnraststätte rief sie ihre Eltern an. Bryan Chambers bot an, sie nach Hause fliegen zu lassen, aber sie wollte sich Zeit zum Nachdenken nehmen.
Chloes Arm wurde in einem Krankenhaus in Mailand geschient. Bryan Chambers wies telegrafisch Geld an - genug, um die Krankenhausrechnung zu bezahlen, neue Kleidung zu kaufen und ein paar Monate unbeschwert reisen zu können.
»Sie haben Helen überhaupt nicht gesehen?«, frage ich.
Er schüttelt den Kopf.
»Ich habe mit ihr telefoniert … und mit Chloe. Sie haben uns Postkarten aus der Türkei und aus Griechenland geschickt.«
Seine Stimme klingt belegt. Diese Andenken sind ihm kostbar - letzte Worte, letzte Briefe, letzte Fotos. Jeder Fetzen wird wie ein Schatz gehütet.
»Warum wusste keine von Helens Freundinnen, dass sie ertrunken ist?«, fragt Ruiz.
»Die Zeitungen haben ihren Ehenamen verwendet.«
»Aber es gab keine Todesanzeige oder einen Hinweis auf ihre Beerdigung?«
»Es gab keine Beerdigung.«
»Warum nicht?«
»Wollen Sie wissen, warum?« Seine Augen lodern. »Wegen Tyler! Ich hatte Angst, er würde auftauchen und irgendetwas machen, um die Beerdigung zu vermiesen. Wir konnten uns nicht richtig von unserer Tochter und unserer Enkelin verabschieden,
weil dieses kranke Schwein einen Zirkus daraus gemacht hätte.«
Seine Brust bebt. Der plötzliche Ausbruch scheint seine restliche Wut ausgelaugt zu haben.
»Wir haben eine private Trauerfeier abgehalten«, murmelt er.
»Wo?«
»In Griechenland.«
»Warum in Griechenland?«
»Weil wir sie dort verloren haben. Dort waren sie glücklich. Wir haben auf einer felsigen Landspitze mit Blick auf eine Bucht, in der Chloe immer geschwommen ist, eine kleine Gedenkstätte für sie errichtet.«
»Eine Gedenkstätte«, sagt Ruiz. »Und wo sind ihre Leichen?«
»Die Leichen wurden nie geborgen. In diesem Teil des Ägäischen Meers gibt es heftige Strömungen. Ein Marinetaucher hat Chloe gefunden. Ihre Schwimmweste hatte sich an den Metallsprossen einer Leiter am Heck der Fähre verfangen. Er hat die Schwimmweste aufgeschnitten, aber die Strömung hat ihre Leiche fortgerissen, und er hatte nicht mehr genug Sauerstoff in seiner Flasche, um ihr nachzuschwimmen.«
»Und er war sich ganz sicher?«
»Sie trug noch ihren Gipsverband. Es war Chloe.«
Das Telefon klingelt. Der alte Anwalt blickt auf die Uhr. Die Zeit wird in 15-Minuten-Intervallen gemessen, denn viertelstundenweise kann abgerechnet werden. Ich frage mich, welches Honorar er für diese Konsultation von seinem »alten Freund« verlangen wird.
Ich danke Mr. Chambers dafür, dass er sich die Zeit genommen hat, und stehe langsam auf. Die Abdrücke auf dem Lederpolster beginnen sich wieder aufzulösen.
»Wissen Sie, ich habe daran gedacht, ihn umzubringen«, sagt Bryan Chambers. Julian Spencer versucht dazwischenzugehen, aber Bryan tut ihn winkend ab. »Ich habe Skipper
gefragt, was es kosten würde. Wen müsste ich bezahlen? Ich meine, man liest doch ständig von so was.«
»Ich bin sicher, Skipper hat Freunde«, sagt Ruiz.
»Ja«, bestätigt Chambers nickend. »Ich weiß nicht, ob ich einem von ihnen trauen würde. Wahrscheinlich würden sie ein halbes Haus ausradieren.«
Er sieht Julian Spencer an. »Keine Sorge. Das ist nur Gerede. Claudia würde es nie zulassen. Sie glaubt an einen Gott, vor dem sie sich verantworten muss.« Er schließt kurz die Augen und öffnet sie wieder, als würde er hoffen, die Welt könnte in der Zwischenzeit besser geworden sein.
»Haben Sie Kinder, Professor?«
»Zwei.«
Er sieht Ruiz an, der zwei Finger hochhält.
»Man hört niemals auf, sich Sorgen zu machen«, sagt Chambers. »Man macht sich Sorgen während der Schwangerschaft,
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