Dein Wille geschehe - Dein Wille geschehe - Shatter
sind.«
Sie dreht sich zu mir um und streicht sich den Pony aus dem Auge. Sie hat den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen und ihre dünnen Arme fest um Chloe geschlungen.
»Er hat meine Tochter.«
Sie antwortet nicht, sondern wendet sich ab und geht die Treppe hinauf.
»Nun sind Sie schon so weit gekommen. Helfen Sie mir.«
Sie ist wieder in ihrem Zimmer verschwunden, nicht gesehen, nicht gehört, nicht überzeugt.
60
Ich gehe über einen Teppich aus Blättern auf den Pflastersteinen und betrete das Esszimmer durch die Terrassentür. Die Möbel sind mit alten Laken bedeckt, die die Sessel und Sofas in formlose Klumpen verwandeln.
In einem kleinen Kamin liegt ein auf immer geschwärzter Kohlerost. Der Sims zeigt Spuren von zahllosen kleinen Nägeln, an denen Dutzende von Weihnachtsstrümpfen hingen, die alle nicht dem Araber gehörten.
Ich gehe die Treppe hinauf. Das Mädchen liegt still da. Sie hat nicht versucht, das Klebeband von ihrem Kopf zu wickeln. Wie gehorsam sie geworden ist. Wie gefügig.
Draußen geht ein kräftiger Wind, Zweige scheuern an der Mauer des Hauses. Hin und wieder hebt das Mädchen den Kopf und überlegt, ob das Geräusch mehr zu bedeuten hat. Jetzt hebt sie wieder den Kopf. Vielleicht hört sie mich atmen.
Sie richtet sich auf und setzt ihre angeketteten Füße vorsichtig auf den Boden. Dann beugt sie sich vor, bis ihre Hände den Heizkörper berühren. Sie tastet sich seitwärts hüpfend bis zur Toilette. Dort bleibt sie stehen und lauscht, bevor sie ihre Jeans herunterzieht. Ich höre verräterisches Plätschern.
Sie zieht ihre Jeans wieder hoch und findet das Waschbecken. Es gibt zwei Hähne, einen für warmes und einen für kaltes Wasser. Links und rechts. Sie dreht den Kaltwasserhahn auf und hält ihre Finger in den Strom. Dann senkt sie den Kopf und versucht den Schlauch in das Wasser zu halten. Es ist, als würde man einem unbeholfenen Vogel beim Trinken zusehen. Sie muss die Luft anhalten und das Wasser einsaugen. Es landet
in der falschen Röhre und löst einen Hustenanfall aus, nach dem sie schluchzend zu Boden sinkt.
Ich berühre ihre Hand. Sie schreit auf und schlägt bei dem Versuch, mir auszuweichen, mit dem Kopf gegen die Rohre.
»Ich bin’s nur.«
Sie kann nicht antworten.
»Du warst sehr brav. Jetzt möchte ich, dass du stillhältst.«
Sie zuckt zusammen, als ich sie berühre. Ich führe sie zum Bett und lasse sie sich hinsetzen. Ich fange mit der unteren Klinge einer Schneiderschere in ihrem Nacken an und schnibbele langsam nach oben.
Schweiß und Körperwärme haben ihre Haare mit dem Band verklebt, sodass ich sie abschneiden muss. An klumpigen Büscheln aus Klebeband und Haaren zerrend, schneide ich durch ihre Locken. Es muss wehtun. Sie lässt sich nichts anmerken, bis ich das Klebeband möglichst abrupt von ihrem Gesicht reiße, um die Schmerzen so gering wie möglich zu halten. Sie schreit in den Schlauch und spuckt ihn aus.
Ich lege die Schere beiseite. Die »Maske« ist ab und liegt auf dem Boden wie die Haut eines ausgeweideten Tieres. Tränen, Schnodder und geschmolzener Klebstoff bedecken ihr Gesicht. Es gibt Schlimmeres.
Ich halte ihr eine Flasche Wasser an die Lippen. Sie trinkt gierig. Ein paar Tropfen fallen auf ihre Strickjacke. Sie wischt sich das Kinn an der Schulter ab.
»Ich habe dir etwas zu essen mitgebracht. Der Hamburger ist kalt, aber er müsste trotzdem noch ganz okay schmecken.«
Sie nimmt einen Bissen. Mehr nicht.
»Kann ich dir sonst irgendwas holen?«
»Ich will nach Hause.«
»Ich weiß.«
Ich ziehe mir einen Stuhl heran und setze mich ihr gegenüber. Sie sieht mich zum ersten Mal und weiß nicht, ob sie hingucken soll.
»Erinnerst du dich an mich?«
»Ja, Sie waren in dem Bus. Ihrem Bein geht es besser?«
»Es war gar nicht gebrochen. Ist dir kalt?«
»Ein bisschen.«
»Ich hol dir eine Decke.«
Ich nehme die Abdeckung eines der Sessel und lege sie um ihre Schultern. Sie weicht vor meiner Berührung zurück.
»Möchtest du noch einen Schluck Wasser?«
»Nein.«
»Vielleicht hättest du lieber eine Cola?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Warum machen Sie das?«
»Um das zu verstehen, bist du noch zu jung. Iss deinen Hamburger.«
Schniefend beißt sie erneut ab. Das Zimmer scheint zu klein zu sein für das Schweigen.
»Ich habe auch eine Tochter. Sie ist jünger als du.«
»Wie heißt sie?«
»Chloe.«
»Wo ist sie jetzt?«
»Ich weiß nicht. Ich habe sie schon eine ganze Weile nicht mehr
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