Dein Wille geschehe - Dein Wille geschehe - Shatter
gesehen.«
Das Mädchen nimmt noch einen Bissen von dem Hamburger. »Als wir noch in London gewohnt haben, hatte ich eine Freundin, die Chloe hieß. Aber seit wir umgezogen sind, habe ich sie nicht mehr gesehen.«
»Warum seid ihr aus London weggezogen?«
»Mein Dad ist krank.«
»Was hat er denn?«
»Parkinson. Deshalb zittert er und muss Tabletten nehmen.«
»Davon habe ich schon gehört. Verstehst du dich gut mit deinem Dad?«
»Klar.«
»Was machst du denn so mit ihm?«
»Wir kicken mit einem Ball oder gehen wandern … Sachen halt.«
»Liest er dir vor?«
»Dafür bin ich wohl schon ein bisschen zu alt.«
»Aber früher hat er dir vorgelesen?«
»Ja, glaub schon. Er liest Emma vor.«
»Deiner Schwester?«
»Hm-hm.«
Ich sehe auf die Uhr. »Gleich muss ich noch mal kurz weg. Ich muss dich fesseln, aber ich werde deinen Kopf nicht mehr mit Klebeband umwickeln wie eben.«
»Bitte gehen Sie nicht.«
»Ich bin nicht lange weg.«
»Ich möchte nicht, dass Sie gehen.« Tränen schimmern in ihren Augen. Seltsam, nicht wahr? Sie hat mehr Angst vor dem Alleinsein als vor mir.
»Ich lass das Radio an. Dann kannst du Musik hören.«
Sie schnieft und rollt sich, den halb gegessenen Hamburger noch in der Hand, auf dem Bett zusammen.
»Werden Sie mich umbringen?«, fragt sie.
»Warum denkst du das?«
»Sie haben meiner Mum gesagt, dass Sie mich aufschneiden würden … dass Sie Sachen mit mir machen würden.«
»Du musst nicht alles glauben, was die Erwachsenen sagen.«
»Was bedeutet das?«
»Das, was es sagt.«
»Muss ich sterben?«
»Das hängt von deiner Mutter ab.«
»Was muss sie tun?«
»Deinen Platz einnehmen.«
Sie erschauert. »Ist das wahr?«
»Ja, das ist wahr. Und jetzt sei still, oder ich muss dir den Mund wieder zukleben.«
Sie zieht die Decke über sich, wendet mir den Rücken zu
und weicht in den Schatten zurück. Ich ziehe meine Schuhe und meinen Mantel an.
»Bitte lassen Sie mich nicht allein«, flüstert sie.
»Psst. Schlaf jetzt.«
61
Der Mercedes schwebt durch Straßen, die leer sind bis auf vereinzelte Gestalten, die hastend einen Nachtbus zu erreichen suchen oder aus dem Pub nach Hause wanken. Diese Fremden kennen mich nicht. Sie kennen Charlie nicht. Ihr Leben wird nie an das meine rühren. Die einzigen Menschen, die mir helfen können, sind nicht bereit, mir zuzuhören oder das Wagnis einzugehen, sich Gideon Tyler auszuliefern. Helen und Chloe leben. Ein Rätsel ist gelöst.
Schon bevor wir unser Haus erreichen, fallen mir unbekannte Fahrzeuge auf, die in der Straße parken. Ich weiß, was für Wagen meine Nachbarn fahren. Diese Autos gehören Fremden.
Als der Mercedes in die Einfahrt biegt, öffnen sich ein Dutzend Wagentüren gleichzeitig. Reporter, Fotografen und Kameraleute umzingeln den Mercedes, beugen sich über die Kühlerhaube und fotografieren durch die Windschutzscheibe. Reporter rufen Fragen.
Ruiz sieht mich an. »Was willst du tun?«
»Ich will ins Haus.«
Ich stoße die Tür auf und versuche, mich zwischen ihren Leibern hindurchzudrängen. Jemand zerrt an meiner Jacke, um mich aufzuhalten. Ein Mädchen versperrt mir den Weg und hält mir ein Aufnahmegerät unter die Nase.
»Glauben Sie, dass Ihre Tochter noch lebt, Professor?«
Was für eine Frage ist das?
Ich antworte nicht.
»Hat er Kontakt zu Ihnen aufgenommen? Hat er sie bedroht?«
»Bitte lassen Sie mich durch.«
Ich komme mir vor wie ein Wild, das von einem Rudel Löwen umzingelt ist, die nur darauf warten, mich zu erlegen. Jemand ruft: »Bleiben Sie stehen und geben Sie uns ein kurzes Statement. Wir versuchen nur zu helfen.«
Ruiz packt mich mit einem Arm, den anderen hat er um Darcy gelegt. Mit gesenktem Kopf kämpft er sich wie ein Rugbyspieler durch das Gedränge. Die Fragen prasseln weiter auf mich ein.
»Gibt es eine Lösegeldforderung?«
»Was glauben Sie, was er will?«
Monk öffnet die Haustür und schließt sie gleich wieder. Das Haus ist in grelles Scheinwerferlicht getaucht, das durch Spalten und Schlitze in Rollläden und Vorhängen dringt.
»Sie sind vor einer Stunde aufgetaucht«, sagt Monk. »Ich hätte Sie warnen sollen.«
Öffentlichkeit ist gut, sage ich mir. Vielleicht sieht irgendjemand Charlie oder Tyler und gibt der Polizei einen Hinweis.
»Neuigkeiten?«, frage ich Monk.
Er schüttelt den Kopf. Ich blicke an ihm vorbei zu dem Fremden, der in meiner Küche steht. Er trägt einen dunklen Anzug und ein steifes weißes Hemd und sieht nicht aus wie ein
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