Dein Wille geschehe - Dein Wille geschehe - Shatter
Eine Sekretärin erklärte mir, dass Mrs. O’Loughlin schon am vergangenen Abend gelandet und den ganzen Tag in London gewesen sei.
Als ich Julianne schließlich erreichte, entschuldigte sie sich und sagte, sie habe mich anrufen wollen. Ich fragte sie nach den Flügen, aber sie meinte, ich müsse mich irren. Ich habe keinen Grund, ihr nicht zu glauben. Wir sind seit sechzehn Jahren verheiratet, und ich kann mich an keinen einzigen Moment erinnern, der mich an ihrer Treue hätte zweifeln lassen. Gleichzeitig ist sie mir immer noch ein Rätsel. Wenn man mich fragt, warum ich Psychologe geworden bin, sage ich: »Wegen Julianne. Ich wollte wissen, was wirklich in ihr vorgeht.« Es hat nicht funktioniert. Ich habe nach wie vor keine Ahnung.
Ich beobachte, wie sie ihre Kleider sortiert, aggressiv Schubladen aufzieht und Bügel von der Stange reißt.
»Warum bist du so aggressiv?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Rede mit mir.«
Sie knallt den Koffer zu. »Hast du einen Schimmer, was du tust, Joe? Bloß weil du die Frau auf der Brücke nicht retten konntest, kümmern wir uns jetzt um ihre Tochter.«
»Nein.«
»Nun, warum ist sie dann hier?«
»Sie wusste nicht, wo sie sonst hingehen sollte. Ihr Zuhause ist ein Tatort. Ihre Mutter ist tot …«
»Ermordet?«
»Ja.«
»Und hat die Polizei den Mörder gefasst?«
»Noch nicht.«
»Du weißt nichts über dieses Mädchen oder seine Familie. Hat sie überhaupt begriffen, dass ihre Mutter tot ist? Sie wirkt nicht gerade sehr bekümmert.«
»Du bist nicht fair.«
»Na, dann sag mir, ist sie psychisch stabil? Du bist doch der Fachmann. Besteht die Gefahr, dass sie ausflippt und meinem Kind etwas antut?«
»Sie würde Emma nie wehtun.«
»Und worauf gründest du diese Einschätzung …?«
»Zwanzig Jahre Erfahrung als Psychologe.«
Den letzten Satz bringe ich mit der mir eigenen Variante kühler Gewissheit heraus. Julianne hört auf. Wenn es um professionelle Einschätzungen geht, liege ich selten falsch, und das weiß sie.
Sie setzt sich aufs Bett, schiebt sich ein Kissen in den Rücken, lehnt sich an die Wand und spielt mit der Quaste am Ende ihres Bademantelgürtels. Ich krieche auf dem Bett auf sie zu.
»Stopp«, sagt sie und hebt die Hand wie ein Polizist, der den Verkehr regelt. »Komm nicht näher.«
Ich setze mich auf meine Seite des Betts. Wir können uns im Spiegel ansehen. Es ist, als würde man eine Sitcom gucken.
»Wenn ich wegfahre, möchte ich nicht, dass sich irgendwas verändert, Joe. Ich will nach Hause kommen und alles so vorfinden, wie ich es verlassen habe. Ich weiß, das klingt egoistisch, aber ich will nichts verpassen.«
»Wie meinst du das?«
»Weißt du noch, als du Emma beigebracht hast, Dreirad zu fahren?«
»Klar.«
»Sie war so aufgeregt. Sie wollte über nichts anderes mehr reden. Du hast diesen Augenblick mit ihr zusammen erlebt. Ich habe ihn verpasst.«
»Das wird hin und wieder vorkommen.«
»Das weiß ich, und es gefällt mir nicht.« Sie lehnt ihren Kopf an meine Schulter. »Was, wenn ich verpasse, wie Emma ihren ersten Zahn verliert oder Charlie zu ihrem ersten Date geht? Ich will nicht, dass sich etwas verändert, wenn ich weg bin, Joe. Ich weiß, dass das irrational, egoistisch und unmöglich ist. Ich will, dass du sie konservierst, wie sie sind, bis ich nach Hause komme, damit ich auch dabei bin.«
Julianne streicht mit einem Finger über meinen Schenkel. »Ich weiß, dass es dein Job ist, Menschen zu helfen. Und ich weiß auch, dass psychisch kranke Menschen oft stigmatisiert werden, aber ich will nicht, dass Charlie und Emma beschädigten Menschen und ihren Wahnvorstellungen ausgesetzt werden.«
»Ich würde nie …«
»Ich weiß, ich weiß, aber denk an letztes Mal.«
»Letztes Mal?«
»Du weißt, was ich meine.«
Sie redet von einem meiner ehemaligen Patienten, der versucht hat, mich zu zerstören, indem er mir alles nehmen wollte, was ich liebte - Julianne, Charlie, meine Karriere, mein Leben.
»Das ist etwas völlig andres«, sage ich.
»Ich warne dich bloß. Ich will deine Arbeit nicht in diesem Haus haben.«
»Darcy ist keine Gefahr. Sie ist ein gutes Kind.«
»Wie ein Kind sieht sie mir nicht aus«, sagt sie und sieht mich an. Ihre Mundwinkel sind leicht herabgezogen. Es ist weder ein Lächeln noch die Einladung zu einem Kuss. »Findest du sie hübsch?«
»Nur bis du aus dem Zug gestiegen bist.«
Drei Uhr nachts. Die Mädchen schlafen. Ich schlüpfe aus dem Bett und schließe die Tür zu meinem
Weitere Kostenlose Bücher