Deine Juliet
ich weitergegeben – aber ist das nicht toll? Wenn ich sterbe, hinterlasse ich mein ganzes Geld dem Roten Kreuz. Ich hab ihnen schon geschrieben, damit sie Bescheid wissen.
Es gibt da noch was, was ich wohl erwähnen sollte. Auch wenn’s um die Deutschen geht: Ehre, wem Ehre gebührt. Sie haben all die Kartons für uns ausgeladen und sich keinen einzigen genommen. Natürlich wird ihnen der Kommandant gesagt haben: «Die Lebensmittel da sind für die Inselbewohner und nicht für euch. Wer auch nur ein Fitzelchen stiehlt, wird erschossen.» Wahrscheinlich gab er allen Männern, die das Schiff entluden, einen Teelöffel, damit sie aufkratzen konnten, was an Mehl oder Getreide verschüttet würde. Das konnten sie essen.
Wenn man’s genau betrachtet, waren sie ein jämmerlicher Anblick, diese Soldaten – einer wie der andere. Stahlen das Gemüse aus unseren Gärten, klopften an die Tür und fragten nach Essensresten. Ich hab mal gesehen, wie ein Soldat sich eine Katze griff und sie mit dem Kopf an die Wand geschmettert hat. Dann hat er ihn abgetrennt und sich die Katze unter die Jacke gesteckt. Ich bin ihm nach, bis zu einem Feld. Da hat er sie gehäutet, in seinem Kochgeschirr gebraten und auf der Stelle verputzt.
Wirklich und wahrhaftig, ein erbärmlicher Anblick. Mir wurde ganz übel, aber trotzdem dachte ich: «Hitlers Drittes Reich – speist heute außer Haus», und fing an zu lachen, bismir die Luft wegblieb. Heute schäme ich mich deswegen, aber so war es.
Mehr habe ich nicht zu erzählen. Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihr Buch.
Hochachtungsvoll,
Micah Daniels
John Booker an Juliet
16. Mai 1946
Liebe Juliet,
Amelia hat uns erzählt, dass Sie nach Guernsey kommen, um Geschichten für Ihr Buch zu sammeln. Ich heiße Sie von ganzem Herzen willkommen, aber ich werde wohl nicht imstande sein, Ihnen zu erzählen, was mir widerfahren ist, weil ich immer das Zittern kriege, wenn ich davon spreche. Vielleicht schreibe ich es besser auf, dann brauche ich nicht darüber zu reden. Es geht ohnehin nicht um Guernsey – ich war gar nicht hier. Ich war im Konzentrationslager Neuengamme in Deutschland.
Sie wissen, dass ich mich drei Jahre lang als Lord Tobias ausgegeben habe? Lisa, die Tochter von Peter Jenkins, bandelte mit deutschen Soldaten an. Ihr war jeder recht, solange er ihr nur Strümpfe oder Lippenstifte schenkte. Das ging so, bis sie an Unteroffizier Willy Gurtz geriet. Ein mieser kleiner Schweinehund. Zusammen wurden sie zu wahren Scheusalen. Lisa war es, die mich an den deutschen Kommandanten verriet.
Im März 1944 stieß Lisa in dem Friseursalon, wo sie sich eine Hochfrisur machen lassen wollte, auf eine alte Ausgabe vom
Tatler
, die noch vorm Krieg erschienen war. Und auf Seite124 war ein Farbfoto von Lord und Lady Tobias Penn-Piers. Sie waren auf einer Hochzeit in Sussex und aßen Austern und tranken Champagner. Die Bildunterschrift gab umfassend Auskunft über ihr Kleid, ihre Diamanten, ihre Schuhe, ihr Gesicht und sein Geld. Das Magazin erwähnte auch noch, dass ihnen ein Anwesen namens La Fort auf Guernsey gehörte.
Damit war es ziemlich offensichtlich – selbst für Lisa, die die Weisheit wahrhaftig nicht mit Löffeln gefressen hat –, dass ich nicht Lord Tobias Penn-Piers war. Lisa verzichtete auf ihre Hochfrisur, stürzte auf und davon und zeigte das Bild Willy Gurtz, der es seinerseits sofort zu seinem Kommandanten brachte.
Die Deutschen fühlten sich für dumm verkauft, nachdem nun heraus war, dass sie all die Zeit vor einem Bediensteten gekatzbuckelt hatten – deshalb waren sie besonders rachsüchtig und schickten mich ins Lager Neuengamme.
Ich habe geglaubt, ich überlebe die erste Woche nicht. Bei Luftangriffen wurde ich zusammen mit den anderen Gefangenen ausgeschickt, um Blindgänger zu entschärfen. Wir hatten die Wahl – aufs freie Feld zu rennen, wo die Bomben nur so herunterprasselten, oder uns zu weigern und dafür von den Wächtern umgebracht zu werden. Ich flitzte los, flink wie ein Wiesel, und versuchte in Deckung zu gehen, wenn ich über meinem Kopf Bomben zischen hörte, und weiß der Himmel wieso, aber am Ende war ich immer noch am Leben. Das habe ich mir immer wieder gesagt – du bist immer noch am Leben. Ich glaube, alle haben sich das jeden Morgen beim Aufwachen gesagt – ich bin immer noch am Leben. Aber die Wahrheit ist,
das waren wir nicht
. Was wir waren, konnte man weder tot noch lebendig nennen. Eine lebende Seele war ich nur in den paar
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