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Deine Juliet

Deine Juliet

Titel: Deine Juliet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Mary Ann / Barrows Shaffer
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Minuten am Tag, in denen ich in meiner Koje lag und versuchte, an etwas Schönes zu denken, an etwas, das ich gern mochte – nicht an etwas, das ich liebte, das machte es nur noch schlimmer. Nur an Kleinigkeiten, einen Schulausflug etwa oder daran, wiees ist, mit dem Rad den Hügel hinunterzusausen – mehr konnte ich nicht verkraften.
    Was mir vorkam wie 30   Jahre, war in Wirklichkeit nur eines. Im April 45 suchte der Lagerkommandant von Neuengamme diejenigen unter uns aus, die noch kräftig genug zum Arbeiten waren, und schickte uns nach Bergen-Belsen: eine mehrtägige Fahrt auf einem großen, offenen Lastwagen, ohne Essen, ohne Decken, ohne Wasser, aber wir waren froh, dass wir nicht laufen mussten. Die Schlammpfützen auf der Straße waren rot gefärbt.
    Ich vermute, Sie wissen bereits von Bergen-Belsen und dem, was dort vor sich ging. Als wir vom Wagen stiegen, bekam jeder eine Schaufel in die Hand gedrückt. Wir sollten große Gruben ausheben, um die Toten darin zu begraben. Sie führten uns durchs Lager zu der Stelle, und ich fürchtete, den Verstand zu verlieren, weil ich nichts als Tote sah. Selbst die, die noch am Leben waren, sahen aus wie Leichen, und die Leichname lagen, wo sie niedergesunken waren. Ich wunderte mich, dass die Deutschen sich überhaupt darum scherten, sie zu begraben. Aber es war so: Die Russen rückten von Osten vor, die Alliierten von Westen, und die Deutschen fürchteten, dass sie das zu sehen bekämen.
    Es waren zu viele Leichen, um sie in der kurzen Zeit alle im Krematorium zu verbrennen – darum schleiften und zerrten wir sie zu den langen Gräben, die wir ausgehoben hatten, und warfen sie hinein. Sie werden es nicht glauben, aber die SS zwang das Häftlingsorchester aufzuspielen, während wir uns mit den Leichnamen abschleppten – ich hoffe, dafür werden sie in der Hölle braten, von Polkagedudel gemartert. Als die Gräben voll waren, gossen die S S-Männer Benzin über die Leichen und setzten sie in Brand. Danach sollten wir sie mit Erde bedecken – als ließe sich so was verbergen.
    Am nächsten Tag kamen die Engländer, lieber Gott, was waren wir froh. Ich war noch so weit bei Kräften, dass ich die Lagerstraße entlanggehen konnte, und sah die Panzer mit denaufgemalten britischen Flaggen auf beiden Seiten die Tore durchbrechen. Ich drehte mich zu einem Mann um, der ganz in der Nähe an einen Zaun gelehnt saß, und rief: «Wir sind gerettet! Es sind die Engländer!» Dann sah ich, dass er tot war. Nur wenige Augenblicke zuvor gestorben. Ich sank neben ihm in den Schlamm und schluchzte, als hätte ich meinen besten Freund verloren.
    Als unsere Soldaten aus ihren Panzern kletterten, kamen auch ihnen die Tränen, selbst den Offizieren. Prachtkerle, alle miteinander – sie gaben uns zu essen, versorgten uns mit Decken und verfrachteten uns in Lazarette. Und eine Woche später legten sie Bergen-Belsen in Schutt und Asche, Gott segne sie dafür.
    Neulich stand in der Zeitung, dass sie jetzt an derselben Stelle ein Flüchtlingslager errichtet haben. Mich schaudert bei dem Gedanken, dass dort nun neue Baracken stehen, auch wenn sie einem guten Zweck dienen. Wenn es nach mir ginge, sollte das Gelände auf ewig öd und leer bleiben.
    Mehr will ich dazu nicht schreiben, und ich hoffe, Sie verstehen, dass ich nicht darüber sprechen möchte. Wie Seneca sagt: «Leichte Sorgen machen gesprächig, schwere machen stumm.»
    Mir fällt noch etwas ein, das vielleicht für Ihr Buch interessant ist. Es geschah auf Guernsey, als ich mich noch für Lord Tobias ausgab. An manchen Abenden gingen Elizabeth und ich auf die Landspitze hinaus und beobachteten die Bomber, die über uns hinwegflogen – Hunderte von Bombern, auf dem Weg nach London. Im deutschen Sender hatte es geheißen, London sei dem Erdboden gleichgemacht worden, es läge in Schutt und Asche. Wir glaubten das nicht so recht, man wusste ja, was man von der deutschen Propaganda zu halten hatte, aber dennoch –
    An einem solchen Abend kamen wir auf unserem Weg durch St.   Peter Port am McLaren House vorbei, einem prächtigen alten Haus, das deutsche Offiziere beschlagnahmt hatten. Ein Fenster stand offen, und das Radio spielte ein wunderschönesMusikstück. Wir blieben stehen, um zu lauschen, und dachten, es müsse eine Übertragung aus Berlin sein. Doch als die Musik endete, hörten wir Big Ben schlagen und eine Stimme in reinstem Britisch sagen: «Sie hören die BBC aus London.» Den Klang von Big Ben erkennt man unter allen

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