Deine Juliet
Konzentrationslagern: als Ausgleich für die verlorene Lebenszeit, für dauerhafte Schädigungen und in Anerkennung ihrer Leiden. Außerdem bietet er denjenigen, die sich weiter ausbilden lassen möchten, ein kleines Stipendium.
Zusätzlich zu dem staatlichen Stipendium gewährt die Association Nationale des Internées de la Résistance Remy finanzielle Unterstützung, um ein Zimmer zu mieten oder sich eine Wohnung mit anderen Überlebenden zu teilen. Deshalb hat sie beschlossen, nach Paris zu gehen und sich eine Lehrstelle in einer Bäckerei zu suchen.
An diesen Plänen wollte sie offenkundig nicht rütteln, darum beließ ich es dabei. Dawsey will sich aber wohl nicht damit zufriedengeben. Er meint, wir sind es Elizabeth schuldig, Remy bei uns aufzunehmen – vielleicht hat er recht, vielleicht lindert es auch nur die Hilflosigkeit, die wir empfinden. Er hat mit Remy ausgemacht, dass er morgen wiederkommt, um mit ihr einen Spaziergang am Kanal zu unternehmen und eine Patisserie aufzusuchen, die er in Louviers entdeckt hat. Manchmal frage ich mich, wo unser alter scheuer Dawsey geblieben ist.
Ich fühle mich ganz wohl, wenn auch ungewöhnlich müde – vielleicht ist es der Anblick meiner geliebten und nun so zerstörten Normandie. Ich bin froh, wenn ich wieder zu Hause bin, meine Liebe.
Einen Kuss für Dich und Kit,
Amelia
Juliet an Sidney
28. Juni 1946
Lieber Sidney,
welch ein erlesenes Geschenk hast Du Kit da zukommen lassen – Stepptanzschuhe aus rotem Satin, mit Pailletten bestickt. Wo hast Du sie nur gefunden? Und wo sind meine?
Seit ihrer Rückkehr aus Frankreich ist Amelia ständig müde, darum ist es wohl das Beste für Kit, weiter bei mir zu wohnen, insbesondere falls Remy sich doch entscheidet, Amelia zu besuchen, wenn sie das Hospiz verlassen hat. Kit scheint der Gedanke auch zu gefallen – dem Himmel sei Dank. Sie weiß jetzt, dass ihre Mutter tot ist, aber ich bin nicht sicher, was in ihrem Innern vorgeht. Sie hat nichts dazu gesagt, und ich denke nicht im Traum daran, sie zu bedrängen. Ich versuche, tunlichst nicht um sie herumzustreichen oder sie mit besonderen Leckereien zu verwöhnen. Nach dem Tod von Mutter und Vater brachte die Köchin von Reverend Simpless mir riesige Stücke Kuchen, stand dann da und sah mit Leichenbittermiene zu, wie ich versuchte, sie zu verspeisen. Ich hasste sie dafür, dass sie offenkundig meinte, Kuchen würde mir über den Verlust meiner Eltern hinweghelfen. Gewiss, ich war damals ein ausgewachsenes Mädchen von zwölf Jahren, und Kit ist erst vier – sie hätte womöglich nichts gegen ein Extrastück Kuchen einzuwenden, aber Du weißt schon, was ich meine.
Sidney, mein Buch macht mir zu schaffen. Ich habe viele Angaben aus den staatlichen Dokumenten und einen Haufen Aufzeichnungen von persönlichen Gesprächen über die Geschichte der Besatzungszeit zusammengetragen – aber ich kann sie nicht in eine Ordnung bringen, die mich zufriedenstellt. Eine reine Chronologie ist zu langweilig. Soll ich meine Blätter zusammenpacken und sie Dir schicken? Sie brauchen einen schärferen und unpersönlicheren Blick als den meinen. Hättest Du Zeit, sieDir vorzunehmen, oder bist Du nach der Australienreise mit der Arbeit immer noch zu sehr im Rückstand?
Wenn ja, zerbrich Dir nicht den Kopf – ich arbeite so oder so, und vielleicht kommt mir ja noch ein brillanter Einfall.
Liebste Grüße,
Deine Juliet
Sidney an Juliet
30. Juni 1946
Liebe Juliet,
spar Dir das Zusammenpacken – ich möchte gern selbst nach Guernsey kommen. Wäre Dir dieses Wochenende recht?
Ich will Dich, Kit und Guernsey sehen – in dieser Reihenfolge. Ich habe nicht die Absicht, Deine Aufzeichnungen zu lesen, während Du vor meiner Nase auf und ab läufst – ich nehme das Manuskript dann mit nach London.
Ich kann am Freitagnachmittag mit dem Fünf-Uhr-Flug eintreffen und bis Montagabend bleiben. Würdest Du mir ein Hotelzimmer buchen? Meinst Du, Du könntest ein kleines Abendessen veranstalten? Ich möchte Eben, Isola, Dawsey und Amelia kennenlernen. Den Wein bringe ich mit.
Liebste Grüße,
Sidney
Juliet an Sidney
Mittwoch
Lieber Sidney,
wunderbar! Isola will nichts davon hören, dass Du im Gasthof übernachtest (sie hat dunkle Andeutungen gemacht, dass es dort Wanzen gibt). Sie will Dich bei ihr unterbringen und muss dazu wissen, ob es Dich stört, im Morgengrauen Geräusche zu hören? Um die Zeit wird nämlich Ariel, ihre Ziege, wach. Zenobia, der Papagei, ist
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