Deine Juliet
uns auf den Weg zu dem Hospiz machen.
Die Fahrt durch die Normandie war furchtbar. Die Straßen in den Städten sind gesäumt von Schutthaufen und verbogenen Metallteilen. Zwischen den Häusern klaffen große Lücken, und die Gebäude, die noch stehen, sehen aus wie schwarze Zahnstummel. Ganze Hausfassaden sind weg, man sieht direkt auf Blumentapeten, zur Seite gekippte Bettgestelle, die sich irgendwie an den Fußboden klammern, und andere Zeichen vergangener Leben. Jetzt erst begreife ich, dass Guernsey im Krieg wirklich Glück gehabt hat.
Auf den Straßen sind immer noch viele Menschen damit beschäftigt, Ziegel und Steine in Schubkarren und anderen Gefährten fortzuschaffen. Sie haben Netze aus schwerem Draht über den Schutt gelegt und so Straßen geschaffen, auf denen Traktoren fahren können. Außerhalb der Städte sieht man zerstörte Felder mit riesigen Kratern, zerwühltes Land und verwüstete Hecken.
Die Bäume sind ein jammervoller Anblick. Keine großen Pappeln, Ulmen und Kastanien mehr – die traurigen Reste sind verkohlt und verkümmert, dürre Stecken ohne Schatten.
M. Piaget, der hiesige Gastwirt, erzählte uns, dass auf Befehl der deutschen Pioniere Hunderte von Soldaten gesunde Bäume gefällt haben – ganze Wälder und Gehölze. Dann hackten sie die Äste ab, schmierten die Stämme mit Teeröl ein und steckten sie senkrecht in Löcher, die sie in den Feldern gegraben hatten. Diese «Bäume» wurden Rommelspargel genannt und sollten Fallschirmabsprünge und Landungen von alliierten Lastseglern verhindern.
Da Amelia gleich nach dem Abendessen zu Bett gegangen ist, habe ich noch einen Spaziergang durch Louviers gemacht. Der Ort hat einige hübsche Ecken, obwohl er stark bombardiert worden ist und die Deutschen bei ihrem Rückzug Feuer gelegt haben. Ich kann mir nicht vorstellen, wie aus Louviers je wieder eine lebendige Stadt werden soll.
Ich bin wieder zurückgegangen und habe mich auf die Terrasse gesetzt, bis es ganz dunkel war, und an den morgigen Tag gedacht.
Umarmen Sie Kit von mir.
Ihr Freund
Dawsey
Amelia an Juliet
23. Juni 1946
Liebe Juliet,
gestern waren wir bei Remy. Ich fühlte mich dem Treffen mit ihr nicht recht gewachsen, Dawsey hingegen schon, dem Himmelsei Dank. Er holte ganz ruhig Gartenstühle herbei, ließ uns unter einem schattigen Baum Platz nehmen und fragte eine Krankenschwester, ob wir Tee bekommen könnten.
Ich wünschte mir, dass Remy Zuneigung und Vertrauen zu uns fasst. Ich wollte mehr von Elizabeth erfahren, doch Remys Zerbrechlichkeit und Schwester Touviers Ermahnungen ließen mich davor zurückschrecken zu fragen. Remy ist sehr klein und viel zu dünn. Ihr dunkles, lockiges Haar ist ganz kurz geschnitten, und ihre riesengroßen Augen blicken gequält. In besseren Zeiten muss sie eine Schönheit gewesen sein, aber jetzt – ist sie durchsichtig wie Glas. Ihre Hände zittern stark, und sie achtet darauf, sie immer in ihrem Schoß zu verstecken. Sie empfing uns, so gut sie konnte, war aber sehr zurückhaltend, bis sie nach Kit fragte – ob sie zu Sir Ambrose nach London gezogen sei?
Dawsey berichtete ihr von Sir Ambroses Tod und wie wir Kit großziehen. Er zeigte ihr die Fotografie von Dir und Kit, die er bei sich trägt. Da lächelte Remy und sagte: «Sie ist ganz das Kind von Elizabeth. Ist sie kräftig?» Ich konnte nicht sprechen, weil ich an unsere arme Elizabeth denken musste, aber Dawsey sagte, ja, sie sei sehr kräftig, und erzählte ihr von Kits Leidenschaft für Frettchen. Das brachte sie wieder zum Lächeln.
Remy ist ganz allein auf der Welt. Ihr Vater starb lange vor dem Krieg, ihre Mutter wurde 1943 nach Drancy geschickt, weil sie Staatsfeinden Unterschlupf gewährt hatte, und starb später in Auschwitz. Remys zwei Brüder werden vermisst. Sie meint, einen von ihnen bei ihrem Transport nach Ravensbrück auf einem deutschen Bahnhof gesehen zu haben, aber er drehte sich nicht um, als sie seinen Namen rief. Den anderen hat sie seit 1941 nicht mehr gesehen. Sie glaubt, dass die beiden ebenfalls tot sind. Ich war froh, dass Dawsey den Mut fand, ihr Fragen zu stellen – von ihrer Familie zu sprechen schien Remy zu erleichtern.
Schließlich brachte ich das Gespräch darauf, ob Remy nicht nach Guernsey kommen und eine Weile bei mir wohnen wolle. Sie zog sich wieder in ihr Schneckenhaus zurück und erklärtemir, sie werde das Hospiz schon bald verlassen. Der französische Staat bewilligt Rentenzahlungen für Überlebende von
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