Deine Juliet
irgendwelche alliierten Truppen findet.»
Sie schickten die erschöpften, halbverhungerten Frauen zu Fuß auf einen endlosen Weg, ohne Nahrung oder Wasser. Auf den Feldern, an denen sie vorbeikamen, waren noch nicht einmal mehr Stoppeln. War es ein Wunder, dass ihr Gang zum Todesmarsch wurde? Hunderte Frauen starben unterwegs.
Nach einigen Tagen waren Remys Beine und ihr Körper von Hungerödemen so angeschwollen, dass sie nicht mehr weitergehen konnte. Also legte sie sich einfach auf die Straße, um zu sterben. Zum Glück fand eine Kompanie amerikanischer Soldaten sie dort. Sie versuchten, ihr etwas zu essen zu geben, aber sie konnte es nicht bei sich behalten. Sie trugen sie zu einem Lazarett, wo man ihr ein Bett gab und literweise Wasser aus ihrem Körper zog. Nach vielen Monaten im Krankenhaus hatte sie sich so weit erholt, dass man sie nach Louviers in unser Hospiz schickte. Ich sage Ihnen, sie wog keine dreißig Kilo, als sie hier ankam. Sonst hätte sie Ihnen schon früher geschrieben.
Es ist meine Überzeugung, dass sie wieder ganz zu Kräften kommen wird, sobald sie diesen Brief geschrieben hat und sich beruhigen kann, weil sie nun dieses Letzte für ihre Freundin getan hat. Sie dürfen ihr natürlich gern schreiben, aber bitte stellenSie ihr keine Fragen über Ravensbrück. Es wird das Beste für sie sein zu vergessen.
Es grüßt Sie
Schwester Cécile Touvier
Amelia an Remy Giraud
16. Juni 1946
Liebe Mlle. Giraud,
wie lieb von Ihnen, uns zu schreiben – wie lieb und wie freundlich. Es ist Ihnen gewiss nicht leichtgefallen, Ihre eigenen schrecklichen Erinnerungen wachzurufen, um uns von Elizabeths Tod zu erzählen. Wir hatten immer noch gebetet, dass sie zu uns zurückkommt, aber die Wahrheit zu wissen ist besser als diese Ungewissheit. Wir sind dankbar, dass Sie und Elizabeth Freundinnen waren und einander beigestanden haben.
Dürfen Dawsey Adams und ich Sie einmal in Louviers besuchen kommen? Das würden wir gern, von Herzen gern, aber nur, wenn wir Sie damit nicht in Unruhe versetzen. Wir möchten Sie kennenlernen und Ihnen einen Vorschlag machen. Aber, wie schon gesagt, wenn es Ihnen nicht recht ist, dann kommen wir nicht.
Seien Sie gesegnet für Ihre Freundlichkeit und für Ihren Mut.
Ihre sehr ergebene
Amelia Maugery
Juliet an Sidney
16. Juni 1946
Lieber Sidney,
welch ein Trost das war, Dich «Verdammt, oh, verdammt» sagen zu hören. Es ist wohl das einzig Aufrichtige, was man dazu sagen kann. Elizabeths Tod ist eine Abscheulichkeit sondergleichen und wird nie etwas anderes sein.
Es ist vermutlich merkwürdig, um jemanden zu trauern, dem man nie begegnet ist. Aber ich tue es. Seit ich hier bin, spüre ich Elizabeth überall. Sie ist in jedem Raum, den ich betrete, nicht nur hier im Cottage, auch in Amelias Bibliothek, die sie mit Büchern bestückt hat, und in Isolas Küche, wo sie Tränke anrührte. Jeder spricht von ihr in der Gegenwart – auch jetzt noch –, und ich hatte mir eingeredet, sie würde eines Tages zurückkehren. Ich wollte sie so gern kennenlernen.
Für alle anderen ist es noch schlimmer. Gestern sah ich Eben, und er wirkte älter als je zuvor. Ich bin froh, dass er Eli bei sich hat. Isola ist verschwunden. Amelia meint, ich solle mir keine Sorgen machen; das täte sie immer, wenn sie verzweifelt ist.
Dawsey und Amelia haben beschlossen, nach Louviers zu fahren. Sie wollen versuchen, Mlle. Giraud zu überreden, dass sie nach Guernsey kommt. Es gab eine herzzerreißende Stelle in ihrem Brief, wo sie schreibt, dass Elizabeth ihr im Lager zum Einschlafen immer ihre gemeinsame Zukunft in Guernsey ausgemalt hat. Sie sagte, es habe für sie geklungen wie der Himmel. Das arme Mädchen hat ein Stück Himmel verdient; durch die Hölle ist sie schon gegangen.
Ich passe auf Kit auf, solange sie fort sind. Es tut mir so leid für sie – sie wird ihre Mutter immer nur vom Hörensagen kennen. Und ich frage mich, was aus ihr werden soll, da sie nun offiziell Waise ist. Mr. Dilwyn sagte, eine Entscheidung habe noch reichlich Zeit. «Lassen wir es vorerst dabei bewenden.» Er hörtsich wahrhaftig nicht nach einem gewöhnlichen Bankmenschen oder Vermögensverwalter an – er ist ein Goldstück von einem Mann.
Liebste Grüße,
Deine Juliet
Dawsey Adams an Juliet
21. Juni 1946
Liebe Juliet,
wir sind nun hier in Louviers, haben Remy aber noch nicht aufgesucht. Die Reise hat Amelia sehr ermüdet, und sie möchte sich einen Abend ausruhen, bevor wir
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