Deine Lippen, so kalt (German Edition)
umfängt und den Daumen sanft über den Wangenknochen gleiten lässt. »Das hab ich nicht gewollt.«
Eine Weile erzähle ich ihm Geschichten, während ich neben ihm auf der Matratze liege, seinen Kopf an meine Brust gekuschelt. Ich habe die Decken hochgezogen, aber eigentlich macht es keinen Unterschied. Er verströmt eine frostige Kälte, sie ist an ihm, in ihm, und er presst sich mit seinem ganzen Körper an mich. Meine Zähne klappern, aber falls er es bemerkt, erwähnt er es nicht.
Er liebt das hier, doch ich muss genau darauf achten, was ich sage. Ich versuche, nur von uns zu erzählen, von Momenten, in denen wir allein waren, weil ich ihn nicht an Ryan oder Becker erinnern will, oder an seine Eltern, seinen Bruder und seine Schwester. Wenn er nach ihnen fragt, habe ich keine Antwort für ihn, keine ehrliche jedenfalls.
Anfangs hat er nie gefragt. Da war ich alles, was er wollte. Als wäre er in einem Traum aufgewacht, in dem nur wir beide vorkamen, als wären er und ich alles, was er brauchte. Sogar über der Garage zu wohnen hat ihn nicht irritiert, solange ich da war.
Aber je mehr Zeit er allein hier oben verbringt, desto mehr verblasst auch der Traum.
»Weißt du noch, wie wir das erste Mal zusammen in die City gefahren sind?«
Er nickt, inzwischen hat er sich etwas beruhigt, und seine Hand ruht entspannt auf meiner Hüfte. So liegen wir hier schon seit einer Stunde, und ich mag gar nicht daran denken, wie früh am Morgen mein Wecker klingeln wird.
»Himmel, es war so kalt an dem Tag, sogar für Februar«, flüstere ich und zittere ein bisschen. Mir kommt es gerade nicht viel wärmer vor.
Ich beschreibe ihm alles ganz genau, lasse zu, dass meine Lider schwer werden und mir die Augen zufallen, als ich meinen Kopf zurücklege und mich erinnere. Wir saßen eng beieinander auf der Sitzbank, teilten uns Ohrstöpsel und einen Kaffee, während der Zug die Schienen entlangruckelte. In Newark stiegen wir um und rannten die lange Rampe zur Path Train runter, die uns ins Village brachte. Wir hielten alle zwei Blocks für einen Kaffee, so schien es zumindest – es war ein klarer, kalter Wintertag, der Wind fuhr uns beißend ins Gesicht und wir hatten sowieso nichts Bestimmtes vor. Wir streiften einfach umher, hatten Spaß, und es wurde zu einem Spiel, der Erste zu sein, der den nächsten Coffeshop entdeckte, um dann gemeinsam durch die Menschenmenge darauf zuzurasen.
»Mein Favorit war der auf der MacDougal Street«, sage ich lächelnd. »Der mit der Kupferdecke und den ganzen alten Fotos mit Leuten in Pelzmänteln und schrägen Hüten. Da gab es die besten Croissants.«
Er macht ein undefinierbares brummendes Geräusch, das Zustimmung signalisieren soll, nehme ich an, und auch wenn ich weiß, dass er nicht einschlafen wird, ist er in diesem Augenblick so entspannt, wie er überhaupt sein kann.
»Und dann sind wir zu Bleecker Bob’s und in diesen Comicladen gegangen, weißt du noch? Oh, und in den Secondhandladen, wo du mir die Kette gekauft hast, die mit der Eule vor dem Mond.«
»Ich erinnere mich an den Mond.« Es klingt, als sei er in Gedanken meilenweit weg, als beschäftige ihn etwas, und sein Körper ist plötzlich wieder vollkommen starr und hart wie Marmor.
»Ja, die Eule sitzt auf einem Ast und hinter ihr sieht man einen vollen Mond«, sage ich zu ihm und kraule gedankenverloren das Haar in seinem Nacken. »Sie ist hübsch. Ich werde sie morgen anziehen.«
»Ich erinnere mich an den Mond«, sagt er noch einmal und setzt sich auf. Er zieht die Decken raschelnd mit sich und ich erschauere. »Und an die Kerzen. Da waren Kerzen.«
Mir dreht sich der Magen um, plötzlich wird mir schwummrig, als hätte ich eine Achterbahnfahrt hinter mir. Kerzen? Auf dem Anhänger sind keine Kerzen, aber da waren Kerzen und ein Vollmond in der Nacht, als ich ihn zurückgeholt habe.
Ich packe seinen Arm, versuche, ihn wieder zu mir zu ziehen. Das silberne Licht, das durch das Fenster fällt, ist matt, aber seine Augen glühen.
Wie polierte Steine, denke ich, als mir mein Traum einfällt, und ich ziehe stärker.
»Weißt du noch, wo wir danach hingegangen sind?«, frage ich ihn. Ich versuche, nicht in Panik zu geraten – er rührt sich nicht, ist vollkommen reglos, beobachtet mich, und ich fühle mich klein und schwach.
Zerbrechlich.
Danny war nie jähzornig, aber das hier ist aus vielerlei Gründen nicht wirklich Danny, aus zu vielen, als dass ich sie zählen könnte. Ich weiß, dass mein Danny mir nie weh
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