Deine Schritte im Sand
den Mahlzeiten bereitet es ihr sichtliche Freude, uns bei Tisch Gesellschaft zu leisten, auch wenn sie nicht mehr mit uns essen kann. Natürlich haben wir versucht, sie in einen Hochstuhl zu setzen und zu stützen, aber das wurde ihr schnell unbequem. Stattdessen bekam sie einen extra für sie hergestellten Spezialstuhl, auf den sie sehr stolz ist. Umso mehr, als Gaspard verkündet hat, der Stuhl sehe aus wie der Thron einer Prinzessin.
Mir jedoch bereitet diese neuerliche Verschlechterung von Thaïs’ Zustand Schwierigkeiten. Es geht auf September zu. Wir sind schon länger als einen Monat in Marseille. Es war ein Monat voll Stress und Angst, ein Monat des Wartens und der Müdigkeit. Ein Monat des Wachens, der ununterbrochenen Sorge und des Pendelns zwischen Klinik und zu Hause. Ein Monat, in dem wir uns nur flüchtig im Umkleideraum der Isolierstation begegneten. Ein Monat, dessen Anstrengung uns fast zerrissen und dessen Ereignisse an unseren Nerven und unserer körperlichen Kraft gezehrt haben. Aber unsere Qualen haben noch lange kein Ende. Werden sie überhaupt jemals vorüber sein? Mein Kampfgeist lässt mich im Stich, meine Zuversicht gerät ins Wanken. Ich kann nicht mehr. Wie gern würde ich einmal loslassen können, alles leichtnehmen und zu einem normalen Leben zurückkehren! Was gäbe ich darum, den Namen dieser vermaledeiten Krankheit niemals gehört zu haben! Ich würde gern die Zeit zurückdrehen, die Ausgangssituation verändern und noch einmal von vorn beginnen. Alles besser machen …
Warum geht das nicht? Warum kann man nicht einfach den Reset -Knopf drücken und alles löschen, was nicht passt? Ich schaffe es nicht mehr, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ich brauche einen Felsen oder wenigstens einen Stock, auf den ich mich stützen kann. Natürlich ist Loïc da; ohne ihn könnte ich das nicht durchstehen. Aber er ist ebenfalls betroffen. Genau wie ich steht er mitten im Sturm, der ihn schüttelt und bedrängt. Ich flehe den Himmel an, uns einen Engel zu senden, nur einen.
Wenn ich wüsste …
Am 1. September klopft unser Engel ohne Sang und Klang an unsere Tür und verändert unser Leben.
ICH HABE MEIN LEBEN LANG AN SCHUTZENGEL GEGLAUBT . Seit jenem Septembertag weiß ich, dass unser Schutzengel eine vierzigjährige Senegalesin ist, die auf den Namen Thérèse hört.
Thérèse trat wie durch ein Wunder in unser Leben. Eine Cousine von Loïc hatte sie uns bereits im Mai empfohlen, um die Kinder zu beaufsichtigen, und ihre beruflichen und persönlichen Qualitäten über alle Maßen gelobt. Sie war fest überzeugt, dass Thérèse eine wertvolle Unterstützung für unsere Familie wäre. Wir zögerten lange, ehe wir uns entschlossen, ein Kindermädchen einzustellen, denn im Mai glaubten wir noch, dass eine Zukunft vor uns läge und es einige Zeit dauern würde, bis wir mit Thaïs’ fortschreitender Krankheit nicht mehr allein zurechtkommen würden. Auch ahnten wir noch nicht, dass auch Azylis die Krankheit in sich trug. Keiner von uns rechnete damit, dass unser Leben völlig aus den Fugen geraten würde. Wir hatten vorgehabt, unser Leben wie gewohnt zwischen Schule und Kinderkrippe zu organisieren. Aber schließlich ließen wir uns doch überreden – eher aus Bequemlichkeit, notwendig schien es nicht zu sein. Kaum drei Monate ist es her, dass wir unseren Entschluss fassten. Heute ist Thérèses Anwesenheit durchaus kein Luxus mehr. Wir können sie nicht mehr entbehren.
»Beaufsichtigen von Kindern im häuslichen Umfeld« stand in ihrem Arbeitsvertrag. Wir hätten auch schreiben können, dass sie als Stützpfeiler eingestellt würde, denn schnell wird Thérèse unverzichtbar für unser Leben. Sie ist der Felsen, auf den wir uns stützen können. Dank ihr straucheln wir nicht, wenn alles ins Wanken gerät. Thérèse wusste vor uns, worauf das alles hinauslief. Als ich sie fragte, ob sie notfalls auch im Haushalt helfen oder für die Kinder kochen würde, war sie keineswegs empört, im Gegenteil.
»Ich bin hier, um Ihre Familie zu unterstützen«, sagte sie gleich. »Sagen Sie mir also einfach, was für Sie wichtig ist. Ich tue es gern.«
Als ich sie voller Panik anrief und fragte, ob sie bereit wäre, nach Marseille zu kommen, zögerte sie keine Sekunde. Sie verschob einige ihrer Termine, packte ihre Koffer und kam, ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren.
Ja, Thérèse ist ein Engel. Ein Engel, den der Himmel geschickt hat. Sie begnügt sich nicht damit, uns das Leben leichter zu
Weitere Kostenlose Bücher