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Deine Schritte im Sand

Deine Schritte im Sand

Titel: Deine Schritte im Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Dauphine Julliand
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viele Gelegenheiten dazu geben wird.

W IR ATMEN AUF, DENN DIE STAMMZELLENÜBERTRAGUNG SCHEINT GEGLÜCKT ZU SEIN . Knapp drei Wochen nach dem Eingriff steigt die Anzahl der weißen Blutkörperchen bei Azylis wieder an. Sie bilden sich wie vorgesehen; das Infektionsrisiko wird von Tag zu Tag geringer. Uff! Die Ärzte scheinen durch das vorzeitige Ende der Aplasie-Phase angenehm überrascht zu sein. Es lässt für den weiteren Verlauf der Dinge hoffen; wir sehen Licht am Ende des Tunnels. Die erste Chimärismus-Analyse bestärkt unseren Optimismus: Einundneunzig Prozent der Stammzellen unserer Tochter stammen aus der Transfusion. Azylis ist ein gastlicher Wirt.
    Die gute Nachricht beruhigt mich. Die schmerzhafte Anspannung zwischen meinen Schulterblättern lässt nach. Meine stetig zusammengezogenen Augenbrauen, die mir eine strenge Falte auf die Stirn geprägt haben, entspannen sich ebenfalls. Ich werde lockerer. Ich kümmere mich um mein Baby mit einer Sorglosigkeit, die ich mir bis dahin verboten hatte.
    Azylis ist süß. Sie lächelt, brabbelt, strahlt. Fast alle Beschwerden, die von der Chemotherapie herrührten, sind verschwunden. Sie hat keine körperlichen Beschwerden oder Schmerzen mehr. Es geht ihr gut. Auch wenn sie noch immer kein Fläschchen annimmt, scheint sie kräftig zu sein. Und zwar in jeder Hinsicht. Allerdings ist das ein bisschen gemogelt: Ihre rundlichen Wangen sind auf das Cortison zurückzuführen.
    Auf der Isolierstation gibt es eine Psychologin, die sich auf Wunsch um die Eltern und die kleinen Patienten kümmert. Sie besucht mich regelmäßig. Im Lauf der Wochen wird die Verbindung zwischen uns immer stärker. Ich genieße unsere Gespräche und ertappe mich dabei, sie beinahe herbeizusehnen. Ihre professionelle Herangehensweise und ihre vernünftigen Überlegungen helfen mir, diese schwierige Zeit so gut wie möglich durchzustehen.
    Eines unserer Gespräche dreht sich um Azylis’ Wohlbefinden. Wir haben beide den Eindruck, dass die Kleine angesichts ihrer Lebensumstände eine außergewöhnliche Lebensfreude an den Tag legt. Wenn man genauer darüber nachdenkt, ist das allerdings nicht verwunderlich. Für sie sind die Umstände nichts Ungewöhnliches, nur für uns. Wir fühlen uns in diesem Zimmer beunruhigt, nicht sie. Denn dieses Zimmer ist ihre Welt, etwas anderes kennt sie kaum. Zwei Drittel ihres Lebens hat sie hier im Zimmer Obelix verbracht. Sie ist daran gewöhnt, uns mit Masken, Hauben, Kitteln und Überschuhen zu sehen. Das Piepsen der Apparate, die durch die Gegensprechanlage verzerrten Stimmen und die Tonsignale der Spritzenpumpe machen ihr keine Angst, denn sie wohnt hier. Die mitfühlenden Krankenschwestern verhätscheln und verwöhnen sie und knuddeln sie auch gern einmal, wenn es möglich ist. Azylis hat den Vorteil, dass ihr Papa oder ihre Mama ständig bei ihr sind – etwas, worum viele andere Kinder sie sicher beneiden würden. Für einen Säugling ist die Anwesenheit seiner Eltern ein geradezu lebensnotwendiges Bedürfnis. Und solange wir da sind, ist alles gut.
    » MAMA, WANN FAHREN WIR ENDLICH WIEDER NACH HAUSE? «
    Gaspard ist traurig. Seit die Ferien zu Ende sind, ist er zunehmend unzufrieden mit dem Aufenthalt in Marseille. Ihm wird klar, was er in Paris zurückgelassen hat und was ihm fehlt. Seine Schule, sein Zuhause, seine eigene Welt. Natürlich gefällt ihm auch Marseille mit seinem milden Klima, dem nahen Meer und der unbeschwerten Lebensart. Aber er gehört nicht hierher und hat den Eindruck, ein Fremder in dieser Stadt zu sein. Jeden Tag fällt es ihm ein wenig schwerer, fröhlich zu sein. Er hat keine Freunde und fühlt sich fremd, obwohl er mit allen Mitteln versucht, sich anzupassen und angenommen zu werden.
    »Heute habe ich in der Schule versucht, Dialekt zu sprechen. Danach waren die Jungen in meiner Klasse sogar ein bisschen freundlicher zu mir.«
    Kinder sind oft gnadenlos. Trotz aller Aufforderungen der Lehrerin schließen die anderen Kinder Gaspard aus. Sie finden den Jungen seltsam, der keinen Dialekt spricht und dessen Schwestern beide krank sind. Einige haben ihn sogar als Lügner bezeichnet. Dazu muss man allerdings sagen, dass die Offenheit, mit der Gaspard seinen Einstand in der Schule gegeben hat, sicher für viele verwirrend war. Am ersten Tag nach den Ferien stellte er sich seinen Mitschülern so vor:
    »Ich heiße Gaspard und wohne in Paris, nicht hier. Ich bin nach Marseille gekommen, weil eine meiner Schwestern metachromatische

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