Deine Schritte im Sand
machen – sie verschönert es auch. Einfach durch ihr Wesen und das, was sie tut. Sie hat mehr auf Lager als Mary Poppins mit ihrer unerschöpflichen Tasche. Und dabei kann Thérèse nicht zaubern. Was ihr Geheimnis ist? Es ist die Liebe, die sie in alltägliche Gesten legt; sie würzt jedes Essen und wäscht unsere Kleider damit, hüllt die Kinder darin ein und versprüht sie im ganzen Haus. Ihr Kommen hat unser Leben verändert. Mit ihr an unserer Seite entdecken wir eine neue Art, das Leben zu sehen. Vielleicht ist sie sich dessen nicht einmal bewusst und wird es möglicherweise nie sein, denn sie ist sehr bescheiden.
Tief im Innern bin ich überzeugt, dass Thérèse nicht zufällig bei uns ist. Eine wohlwollende Hand hat sie zu uns geleitet. Und die Kinder spüren das auch. Sie schließen Thérèse sofort ins Herz. Vor allem Thaïs schenkt der Kinderfrau von Anfang an ihr volles Vertrauen. Vielleicht spürt sie sofort die gute Seele, die unnachahmliche Sanftheit, unendliche Geduld und unbeirrbare Fröhlichkeit, die sie besitzt – und vieles, das man nicht in Worte fassen kann.
EINE KLEINE NACHTMUSIK . Immer unterbricht die gleiche Abfolge von Wiegenliedern die Stille der Nacht. Thaïs’ Nächte verlaufen so gleichförmig wie die Linien auf Notenpapier. Jeden Abend schläft sie nach dem Ritual der Einnahme ihrer Medikamente und zahlreichen Gutenachtküssen friedlich ein. Doch die Ruhe währt nicht lange. Kurz nach Mitternacht dringt ein Wimmern aus ihrem Zimmer. Die langgezogene, kaum hörbare Klage erscheint mir schlimmer als ein gellender Schrei, denn sie trägt die Spur so vieler Prüfungen und Ängste in sich. Es kommt mir vor, als verberge die stets lächelnde und zuversichtliche Thaïs die Last tagsüber in ihrem Innern, die ihr bei Nacht zu schwer wird. Und so ruft sie jeden Abend nach uns und fleht uns an, ihr beizustehen, wenn die Dunkelheit ihre Ängste wieder hervorkriechen lässt. Wir wachen abwechselnd bei ihr.
Mit einem Blick lädt sie uns ein, sich auf die Bettkante zu setzen, ihre Hand zu nehmen und sie sanft zu drücken. Mit einer fast unmerklichen Geste bittet sie um ihre CD , eine Sammlung von Wiegenliedern. Es muss immer dieselbe sein. Tagsüber hört sie gern Geschichten oder Lieder. Nicht so nachts, da gibt es für sie nur diese Musik. Bei den ersten Klängen entspannt sie sich. »Schlafe, mein Kindchen, schlaf ein …« Die Worte scheinen ihre Welt in weiche, tröstliche Watte zu hüllen. Thaïs schläft ein, doch wenn der sanfte Druck der Hand nachlässt oder die Musik endet, setzt das Wimmern sofort wieder ein. Manchmal dauert es mehrere Stunden. Wir richten uns darauf ein, die Nacht bei ihr zu verbringen, und stellen einen bequemen Sessel neben ihr Bett; eine Taste am CD -Player sorgt dafür, dass die Musik endlos wiederholt wird. Wir dösen mit ihr, bis ihr Atem tief und regelmäßig geht und ihr Händchen schwer wird. Erst dann können wir leise und ohne die Musik abzustellen aufstehen und auf Zehenspitzen ihr Zimmer verlassen, um selbst die ersehnte Ruhe zu finden.
Nach den ersten dieser Abende spüre ich, wie meine Kräfte schwinden. Ich kann es mir nicht leisten, mehrere Nächte hintereinander nicht zu schlafen – dazu sind meine Tage zu anstrengend. Meine Widerstandsfähigkeit ist am Ende; lange halte ich diesen Rhythmus nicht mehr durch. Wieder einmal habe ich nicht mit unseren treuen Helfern gerechnet. Loïcs und meine Eltern übernehmen die Nachtwachen, um uns die zusätzliche Belastung zu ersparen. Alle vier wechseln sich am Bett ihrer Enkelin ab.
Ihre Klagelaute sind ein äußerst wirksames Alarmsignal. Beim ersten Ton springt der Wachhabende auf und geht sofort zu ihr, immer in der Hoffnung, dass Thaïs uns nicht geweckt hat. Doch das funktioniert fast nie. Unser elterliches Gespür erkennt den Ruf unseres Kindes sogar im Tiefschlaf. Aber wir können sofort wieder einschlafen, weil wir wissen, dass unsere Tochter liebevoll von ihren Großeltern umsorgt wird. Durch die durchwachten Stunden entsteht eine außergewöhnlich enge Beziehung zwischen unseren Eltern und Thaïs. Dabei dachte ich, dass sie ihre Wache und die damit verkürzte Nachtruhe nicht gerade herbeisehnen würden. Das Gegenteil ist der Fall. Mir fällt auf, dass jeder seine Zeit am Bettchen der Enkelin geradezu mit Ungeduld erwartet. In der Verschwiegenheit der Nacht lernen sie sich besser kennen. Jeder von ihnen genießt die besonderen, vertraulichen Momente mit Thaïs. Sie wissen, dass es nicht mehr
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