Deine Schritte im Sand
es ihr Schmerzen bereitet. Das jedoch ist problematisch, denn sie muss bei Kräften bleiben. Energie braucht sie jetzt mehr denn je. Aber die Lösung ist ganz einfach. Man wird sie künstlich ernähren.
Der Zugang erfolgt über den Zentralkatheter, der Azylis bereits vor ihrer Aufnahme auf der Isolierstation gelegt wurde. Durch diesen Katheter werden alle Medikamente verabreicht, ebenso wie die Chemo und ab sofort auch die Nahrung.
Von diesem Tag an wird meine Jüngste mehr als zwei Monate lang keinen Tropfen Milch mehr zu sich nehmen. Sie wird sogar den Schluckreflex verlieren. Ich fühle mich nutzlos, denn ich kann keine meiner beiden Töchter selbst ernähren. Für eine Mutter ist so etwas sehr schwer zu akzeptieren.
WARUM GESCHIEHT NICHT ALLES SO, WIE MAN ES SICH WÜNSCHT? Thaïs sollte endlich aus dem Krankenhaus entlassen werden. Wir alle waren glücklich, sie wieder zu Hause zu haben, und auch sie freute sich darauf. Aber ausgerechnet heute, an diesem seit einem Monat sehnlichst erwarteten Tag, fühlt sie sich nicht wohl. Sie fiebert ein wenig, und ihr ist schlecht. Die Ärzte lassen nicht mit sich reden – in diesem Zustand wird sie auf keinen Fall aus dem Krankenhaus entlassen.
Die schlechte Nachricht entlastet uns. Wir haben uns verausgabt. Wir sind erschöpft durch den ständigen Wechsel zwischen zwei Etagen, zwei Zimmern, zwei Töchtern und der ständigen Sorge um ihre Gesundheit. Wir wissen nicht, wo wir die Energie hernehmen sollen, auf diesem unberechenbaren Weg weiterzugehen, und wünschen uns nichts sehnlicher als eine Ruhepause vor Azylis’ Transfusion.
Thaïs verzieht das Gesicht. Ich weiß, dass es nicht an ihrer Übelkeit liegt; sie ist enttäuscht. Genau wie wir, vielleicht sogar noch stärker. Sie ist schon so lange hier. Aber sie hat begriffen, dass sie sich noch ein paar Tage gedulden muss, ehe sie nach Hause darf. Geduld ist nicht gerade die Stärke kleiner Kinder. Und doch … Von ihrem Bett aus sieht sie zunächst traurig zu, wie ich die Koffer wieder auspacke, aber plötzlich trocknen ihre Tränen, sie greift nach einer Puppe und beginnt so ruhig zu spielen, als ob nichts wäre. Sie lächelt sogar der Krankenschwester zu, die zur Blutabnahme kommt. Ich setze mich an ihr Bett und kann die Augen nicht von diesem kleinen Mädchen wenden, das mich immer wieder in Erstaunen versetzt. Wie gern würde ich ihr Geheimnis ergründen.
Wie bringt sie es fertig, alles mit diesem Lächeln zu ertragen? Woher nimmt sie den inneren Frieden und die Kraft, so viele Bewährungsproben durchzustehen? Natürlich kann man es damit erklären, dass sie nur ein Kind ist. Dass sie sich vieler Dinge nicht bewusst ist, dass sie die Zukunft nicht abschätzen kann, dass sie schlechte Erfahrungen schnell vergisst. Sicher stimmt das, doch ich spüre, dass mehr dahintersteckt. Es ist nicht so, dass Thaïs ihre Krankheit erduldet – sie lebt ihr Leben. Sie kämpft um das, was sie verändern kann, aber alles, was unvermeidlich ist, erträgt sie. So viel Weisheit! Und welch eine Lektion! Dieses kleine Mädchen ringt mir uneingeschränkte Bewunderung ab. Und ich bin nicht die Einzige, die so empfindet. Beim Hinausgehen sagt die Krankenschwester leise: »Bis gleich, Prinzessin Courage …«
M EINE HÄNDE ZITTERN ebenso wie mein Herz. Zum ersten und letzten Mal halten Loïc und ich uns gleichzeitig im Zimmer von Azylis auf. Die Vorschriften der Isolierstation gestatten so etwas nur in Ausnahmefällen. Heute ist ein solcher Fall. Dieser 25. August ist kein Tag wie jeder andere. Heute erhält Azylis ihre Transfusion.
Das Behältnis mit Nabelschnurblut liegt vor uns, und es erscheint uns wertvoller als Gold. Die Atmosphäre in dem ohnehin schon kleinen Zimmer kommt uns erstickend vor. Das Atmen mit den Masken fällt uns schwerer, und unter unserer sterilen Kleidung ist es uns wärmer als sonst. Die Luft hat sich in ein dichtes Gemisch aus Nervosität und Aufregung verwandelt. Ich glaube, wir erleben soeben, was es bedeutet, Spannung beinahe mit Händen greifen zu können. Eine Krankenschwester hakt die letzten Punkte auf ihrer Checkliste ab. Alle Zugänge sind gelegt. Azylis ist ruhig. Der Eingriff kann beginnen.
Eine Stammzellenübertragung sieht nicht schlimmer aus als eine Bluttransfusion, und Transfusionen beeindrucken mich schon lange nicht mehr. Im Lauf der vergangenen Woche hat Azylis schon mehrere davon erhalten. Trotzdem ist es heute anders. Ich kann den Blick nicht von dem stetig tropfenden Apparat abwenden,
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