Deine Schritte im Sand
der seine Substanz im regelmäßigen Rhythmus eines Metronoms abgibt. Es wird fast zwei Stunden dauern, bis sich der Inhalt des Plastikbeutels in den Blutkreislauf von Azylis entleert hat. Zwei Stunden, die den Lauf der Dinge und vielleicht sogar ein ganzes Leben verändern.
»Stopp! Sofort aufhören! Es ist die falsche Blutgruppe!« Nackte Panik hat mich ergriffen, nichts hält mich mehr auf meinem Platz. Ich schreie so laut, dass der ganze Raum davon erfüllt ist. Auf dem Beutel mit dem Stammzellenblut habe ich die Buchstaben AB + gelesen; Azylis’ Blutgruppe aber ist A +, dessen bin ich ganz sicher. Die Ärzte müssen sich geirrt haben, ein Albtraum!
Der herbeigeeilte Mediziner beruhigt mich. »Keine Sorge, Madame«, beruhigt er mich. »Wir haben keinen Fehler gemacht. Die beiden Blutgruppen sind untereinander kompatibel. Ein Patient der Blutgruppe A + kann ohne weiteres eine Konserve der Gruppe AB + erhalten. Es ist übrigens durchaus möglich, dass Azylis im Lauf der Zeit ihre Blutgruppe zu AB + verändert.«
Stumm vor Angst und Verblüffung höre ich ihm zu. Nie hätte ich gedacht, dass sich die Blutgruppe verändern kann. Allerdings muss ich auch gestehen, dass ich keine Ahnung hatte, dass man Knochenmark austauschen kann, ehe ich in diese Situation geriet.
Auch wenn mir klar ist, dass der Eingriff nicht nur wichtig, sondern möglicherweise lebensrettend für Azylis ist, fällt es mir schwer, ihn zu akzeptieren. Ich bin verunsichert, denn Blut ist eines der grundlegenden Dinge, die man seinem Kind mitgibt. Bald jedoch wird Azylis Zellen produzieren, die nichts mehr mit uns zu tun haben. Das Erbgut in ihrem Blut wird ein anderes sein. Ja, die Zukunft unserer kleinen Tochter liegt nicht mehr in unseren Händen. In gewisser Weise sind wir nicht einmal mehr blutsverwandt.
ES IST VOLLBRACHT . Azylis hat die Transfusion überstanden. Sie hat nicht einmal etwas davon bemerkt. Wir aber fühlen uns durch eine Flut von Gefühlen geradezu erschlagen. Von nun an ist es nicht mehr an uns, die Situation zu beherrschen. Indem wir eingeschritten sind, damit unser Baby geheilt werden kann, haben wir mit Sicherheit den Lauf der Dinge verändert. Aber wie und in welchem Maß? Welche Richtung wird ihr Leben nun nehmen? Es ist eine Gleichung mit vielen Unbekannten, die sowohl Chancen als auch Gefahren in sich tragen.
Aber im Augenblick sind wir noch nicht so weit. Ehe man feststellen kann, ob der Eingriff Besserung gebracht hat, muss erst einmal sichergestellt werden, dass der Körper die fremden Stammzellen annimmt. Die Truppen sind ausgesandt – nun muss überwacht werden, ob und wie sie sich im Knochenmark von Azylis ansiedeln.
Ich bitte um eine Lupe, um auch das winzigste Pickelchen und die kleinste rote Spur auf Azylis’ Haut erkennen zu können, die möglicherweise auf eine heftige Immunreaktion hindeuten. Gott allein weiß, wie häufig Hautirritationen bei Säuglingen auftreten! Jeden Tag entdecke ich einen Fleck, eine raue Stelle oder eine andere Veränderung – Dinge, über die man normalerweise hinweggeht. Als Gaspard und Thaïs noch Säuglinge waren, machte ich mir niemals Sorgen bei kleinen Unregelmäßigkeiten, aber jetzt bin ich von ihnen besessen. Von ihnen und von Bakterien. Denn Azylis befindet sich noch in der Aplasie-Phase.
Wir verdoppeln unsere Wachsamkeit, um jede Art von Ansteckung zu vermeiden. Das Desinfektionsmittel verätzt uns die Hände; trotzdem waschen wir uns lieber einmal zu viel als zu wenig. Jeder Husten, jedes Niesen, jedes Kratzen im Hals erscheint uns verdächtig. Die meisten Mütter warten sehnsüchtig auf das erste Lächeln, die ersten Zähnchen und das erste Lallen ihres kleinen Lieblings. Ich hingegen harre ungeduldig der ersten weißen Blutkörperchen, die Azylis’ neue Knochenmarkszellen produzieren.
Die nächste wichtige Etappe ist das Chimärismus-Monitoring. Chimärismus – der Begriff klingt hübsch, fast poetisch. Er hört sich an, als würde er zu einer Reise durch die griechische Mythologie einladen. Aber das trifft ganz und gar nicht zu. Unter Chimärismus versteht man eine Konstellation, bei der Empfänger- und Spenderzellen gleichzeitig im Organismus vorkommen. Die Analyse ihres Verhältnisses im weiteren Verlauf bildet eine wichtige Erfolgskontrolle der Stammzelleninfusion. In regelmäßigen Abständen wird Azylis’ Blut untersucht, um Auskunft über den Stand der Schlacht in ihrem Innern zu erhalten. Es kommt mir vor, als wäre es ein Rapport an den Generalstab
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