Deine Schritte im Sand
Behandlung steht außer Frage, dennoch bittet uns die Ärztin, gut nachzudenken, ehe wir unsere Zustimmung geben. Die Medikamente haben nämlich Nebenwirkungen. Durch die Behandlung wird Thaïs extrem schläfrig werden. Das ist die unvermeidliche Kehrseite der Medaille. Unsere Kleine ist dann zwar schmerzfrei, aber sie wird noch weniger am Leben teilhaben können. Trotzdem stimmen wir ohne zu zögern zu.
M ORGEN ABEND, HALB ZEHN . Im blauen Pavillon, zweite Etage, erstes Zimmer rechts. Du löst Caro ab. Sie sagt dir alles, was du wissen musst. Am nächsten Morgen um acht wirst du von Marie-Pascale abgelöst. Ich komme im Lauf des Vormittags nach.«
»Okay, alles klar. Kann ich anrufen, wenn Probleme auftreten?«
»Sicher. Wann immer es nötig ist. Halt die Ohren steif. Gute Nacht.«
Man könnte glauben, in einem Spionagefilm gelandet zu sein. Dabei nimmt uns die Wirklichkeit noch stärker gefangen als die Fantasie. Denn hier geht es um den Einsatzplan von Thaïs’ Mannschaft. Einer Mannschaft, die sich gleich bei ihrer Einlieferung in die Klinik gebildet hat. Die Nachricht, dass Thaïs’ wieder im Krankenhaus ist, verbreitet sich in unserer Umgebung schneller als ein Lauffeuer. Bestürzt über diese neuerliche Trennung, bieten uns unsere engeren und weniger engen Freunde ihre Hilfe und Zeit an. In Windeseile bildet sich ein Netzwerk, das die Wache bei Thaïs übernimmt. Und zwar rund um die Uhr. Der Vorsatz lautet: Bei Tag und bei Nacht muss jemand bei der Kleinen sein und uns so weit wie möglich entlasten. Manchmal wird es fast ein wenig eng, wenn die Ablösung zu früh erscheint oder der letzte Besucher noch ein bisschen bleiben möchte. Die Krankenschwestern gewöhnen sich schnell an den ununterbrochenen Wechsel neuer Gesichter am Bettchen unserer Prinzessin. Sie nennen es den »Thaïs-Solidaritätsverband«.
Solidarität … ist es wirklich dieses Gefühl, das Freunde, Verwandte, Cousins, Cousinen, Junge und Ältere dazu bringt, eine Stunde, einen Tag oder eine ganze Nacht in einem engen Krankenzimmer bei einem zweijährigen Mädchen zu verbringen, das weder sehen noch sprechen noch sich bewegen kann? Ich glaube es nicht. Da ist noch etwas anderes, und ich kann es spüren. Ich spüre es an ihrem Drang uns zu helfen, der stärker ist als Sympathie, intensiver als Mitleid und tiefer als Zuneigung.
Durch Anekdoten, Berichte und Vertraulichkeiten enthüllt uns jeder auf seine Weise und mit seinen Worten, was ihn dazu bringt, bei Thaïs zu wachen. Und alle Gründe sind eigentlich nur ein einziger. Für uns ist er das schönste Geschenk. Eines, das mitten ins Herz geht.
»NIEMAND DA?« Die Krankenschwester betritt das Zimmer von Thaïs und wundert sich, sie allein zu finden.
Unsere Kleine liegt mit weit geöffneten Augen in ihrem Bett, lacht leise und wendet das Köpfchen nach allen Seiten. Plötzlich öffnet sich die Tür des Kleiderschranks, und Carolines Kopf späht um die Ecke.
»Pst, Thaïs und ich spielen Verstecken. Sagen Sie bloß nicht, dass Sie mich gesehen haben. Es ist nicht leicht, in diesem Zimmer ein gutes Versteck zu finden. Unter dem Bett findet sie mich immer sofort.«
Gerührt legt die Krankenschwester einen Finger auf die Lippen, tritt zu Thaïs und kümmert sich um sie, als wäre nichts gewesen. Thaïs jubiliert.
An diesem Tag hat die dreißigjährige Caroline ihre Kinderseele wiederentdeckt, die schon viel zu lange tief in ihrem Innern schlummerte. Sie hat sie für Thaïs gefunden – und dank Thaïs.
LOUIS-ÉTIENNE SITZT NEBEN THAÏS AUF DEM BETTRAND . Seine Augen sind gerötet, seine Nase angeschwollen. Er beweint seinen ersten Liebeskummer. Mit zwanzig glaubt man noch, dass die Wunden der Liebe nie verheilen und mitunter tödlich sind. Er ist untröstlich und vertraut Thaïs die Qualen seines Herzens und die Wogen seiner Gefühle an.
Thaïs wendet ihm ihr Gesicht zu, bis er sie anblickt, und beginnt zu lachen. Sie hört nicht auf, lacht immer weiter. Ihr Lachen ist so ansteckend, dass Louis-Étienne nicht widerstehen kann. Er stimmt ein, und gemeinsam lachen sie aus vollem Hals. Und plötzlich erscheint ihm alles viel leichter.
Zärtlich küsst er Thaïs’ kleine Hand. »Du hast recht, meine Thaïs«, sagt er. »Es ist wirklich nicht so schlimm.«
Vielleicht ist es diese Magie, die wohlmeinende Menschen scharenweise an Thaïs’ Bettchen treibt. Die Magie, die man Liebe nennt.
MANCHMAL BESTEHT DAS GLÜCK AUS WINZIGEN KLEINIGKEITEN . Der Grund für unsere Wonne an diesem
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