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Deine Schritte im Sand

Deine Schritte im Sand

Titel: Deine Schritte im Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Dauphine Julliand
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Morgen ist ein für das bloße Auge unsichtbares Protein – die Arylsulfatase A. So heißt das Enzym, das Azylis fehlte … und das nun plötzlich in ihrem Organismus vorhanden ist. Man kann es nur unter dem Mikroskop erkennen, aber die Ergebnisse sind eindeutig – es ist da! Uns kommt es vor wie ein warmer Sonnenstrahl mitten im Dezember.
    Als Azylis geboren wurde, hatte sie so gut wie keine Arylsulfatase A im Blut. Heute ist der Wert völlig normal, wie bei einem Menschen ohne MLD . Genau das hatten wir mit der Stammzellentransplantation erreichen wollen. Und wir haben es geschafft.
    Das Vorhandensein des Enzyms ist eine unerlässliche Voraussetzung für einen eventuellen Stillstand der Krankheit. Uns ist ein großer Schritt nach vorn gelungen. Wir sind auf einem neuen Weg, der es uns gestattet, an eine Zukunft zu glauben. Vielleicht kommt uns das alles hier eines Tages nur noch wie ein böser Traum vor. Vielleicht wird sie eines Tages laufen und kann leben wie alle anderen. Vielleicht, vielleicht, vielleicht … In meinem Kopf wirbeln unendlich viele hoffnungsfrohe Überlegungen herum.
    Es ist jedoch noch zu früh, als dass wir uns als Sieger sehen könnten. Im Moment wissen wir nur eines sicher: Das Enzym ist bei Azylis nachgewiesen worden. Tausend Zweifel aber bleiben: Wird es sich als wirksam erweisen? Und wird es das tun, ehe die Krankheit irreparable Schäden hinterlassen hat? Wird genügend davon produziert, um das Fortschreiten der Krankheit endgültig zu stoppen? Auf diese Fragen kann uns nur die Zukunft eine Antwort geben. Alle drei Monate wird Azylis umfangreiche Tests über sich ergehen lassen müssen, damit möglichst zeitnah beobachtet werden kann, wie sich die Dinge entwickeln. Erst später werden wir erfahren, ob ihr neurologischer und motorischer Zustand sich stabilisiert oder ob …
    Gut, aber diese Unsicherheiten hebe ich mir für ein anderes Mal auf. Jetzt genieße ich erst einmal mit ganzem Herzen die gute Nachricht. Was alles andere angeht, so muss ich versuchen, Vertrauen zu haben und mich auf die positiven Aspekte zu stützen. Immerhin war der bisherige Verlauf durchaus ermutigend: Die Stammzellentransplantation hat ausgezeichnet angeschlagen, und das Enzym wird produziert. Wir dürfen wieder hoffen. Und jeder weiß, dass Hoffnung Leben schenkt.

I HR MÜSSET EUCH BEQUEMEN/EIN WERK wol zwanzig mal von neuem vorzunehmen«, rät Boileau. Wir versuchen es zwar, aber angesichts der beängstigenden Zunahme von Thaïs’ Schmerzen verlieren wir den Boden unter den Füßen. Sie quält sich immer mehr, was die Ärzte zwingt, ihr jeden Tag stärkere Schmerzmittel zu verabreichen.
    Seit zwei Wochen ist Thaïs jetzt wieder in der Klinik. Eigentlich sollte sie nur so lange bleiben, bis sie medikamentös richtig eingestellt ist, doch es dauert länger als vermutet. Und die Aussichten werden immer trüber. Ihre Schmerzen sind nicht der einzige Grund für unsere Unruhe und bei Weitem nicht der entmutigendste. Ihre Krankheit ist im Begriff, die letzten Bastionen zu stürmen. Sie beeinträchtigt das Zentralnervensystem und bedroht die lebensnotwendigen Funktionen.
    Heute Morgen hat der Arzt Loïc und mich gebeten, ihn gemeinsam aufzusuchen. Das hat nichts Gutes zu bedeuten. Wenn man uns zusammen vorlädt, ist das immer ein schlechtes Zeichen. Und wirklich: Mit tonloser Stimme eröffnet uns der Mediziner, dass Thaïs nicht mehr lange zu leben hat.
    Jetzt schon.
    Der Winter dringt in das Sprechzimmer ein. Unsere Tränen erstarren, unser Blut wird kalt, eine eisige Hand greift nach unseren Herzen. Jetzt schon. Wie kann das sein? Ich erinnere mich meiner hübschen Thaïs, wie sie im vergangenen Februar mit ihrem schief gestellten Fuß fröhlich das Leben eroberte. Das war doch erst gestern! Aber seitdem ist die Krankheit so rapide vorangeschritten, dass es unsere schlimmsten Befürchtungen übertrifft. Und nichts konnte ihr Einhalt gebieten. Drei Jahreszeiten später wirft uns ihr ungebremster Galopp aus dem Sattel. Wir können nicht mehr.
    Im letzten Sommer fürchteten wir schon einmal um ihr Leben – und doch war es ganz anders. Zwar war Thaïs damals ebenfalls sehr krank, aber man gab sie noch nicht verloren. Die Medizin konnte ihr helfen, das Tief zu überwinden. Heute aber hat die Krankheit ein Stadium erreicht, das nicht mehr beherrschbar ist. Ihre lebenswichtigen Funktionen können jeden Moment aussetzen. Thaïs droht ein tödliches Herz- oder Lungenversagen. Ein Gefühl der Ohnmacht überwältigt uns.

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