Deine Schritte im Sand
sich ihr Zustand erneut, und sie bekommt Schmerzen. Starke Schmerzen.
Die Anfälle kommen immer häufiger und heftiger. Natürlich haben wir jede Menge Medikamente im Haus, um ihr Linderung zu verschaffen. Doch der Schmerz widersetzt sich, die Anfälle sind von längerer Dauer. Sie setzen ohne Vorwarnung ein und hören ebenso abrupt auf, wie sie angefangen haben. Manchmal branden sie nur kurz, aber mit ungeheurer Heftigkeit auf, manchmal dauern sie länger als eine Stunde. Doch ganz gleich, wie lange sie anhalten – eines haben sie gemeinsam: Sie sind unerträglich. Die quälenden Anfälle lassen Thaïs wie vernichtet in einem Zustand des Schocks zurück.
Dieser Nachmittag in ihrem Zimmer verläuft ruhig. Thaïs und ich liegen aneinandergekuschelt auf ihrem Bett und hören uns eine Geschichte an. Plötzlich bekommt sie einen Anfall. Den schmerzhaftesten und heftigsten, den ich je erlebt habe. Nie werde ich diese Szene beschreiben können. Es gibt nichts Schlimmeres, als hilflos dem Leiden seines Kindes zuschauen zu müssen. Nichts ist so schlimm wie das.
So etwas darf nie wieder passieren. Nie wieder soll meine Kleine so leiden müssen. Es ist unerträglich. Wir brauchen stärkere Medikamente, müssen einen Gang höher schalten. Wir werden alle Mittel ausschöpfen, damit diese Qualen aufhören. Und zwar sofort. Nachdem ich Thaïs einigermaßen beruhigt habe, rufe ich das Krankenhaus an. Ich stehe immer noch neben mir. Meine Hände zittern auf den Tasten des Telefons, und ich kann vor lauter Tränen kaum klar sehen. Als ich dem Arzt den Vorfall schildere, beschließt er, Thaïs sofort in die Klinik zu verlegen.
Ich habe gerade noch Zeit, die wichtigsten Utensilien für einen Krankenhausaufenthalt zusammenzupacken – keinesfalls darf ich die CD mit den Wiegenliedern vergessen –, als auch schon der Krankenwagen vor der Tür steht. Nur wenige Minuten später erreichen wir mit Blaulicht und Martinshorn das Krankenhaus. Die Fahrt hat einen neuerlichen Anfall ausgelöst. »Mein Gott, wie kann ein Mensch nur so leiden«, hatte ich den Krankenwagenfahrer halblaut sagen hören. Dann hatte er das Gaspedal bis zum Anschlag durchgetreten.
NICHTS WIRD GEDULDET . Für das Klinikpersonal gilt bei Schmerzen die Maxime: Der Patient darf nicht leiden. Ohne Wenn und Aber. Erst recht, wenn es sich dabei um ein Kind handelt. Die Ansichten haben sich sehr verändert. Ich erinnere mich noch sehr gut an früher. Als ich klein war, biss ich die Zähne zusammen und hielt die Tränen zurück, während der Arzt mir versicherte: »Aber nein, das tut überhaupt nicht weh. Du bist doch ein tapferes kleines Mädchen.« Und wie es weh tat, als eine Wunde ohne Betäubung genäht wurde! Er hätte es mir gegenüber wenigstens eingestehen können. Früher besiegte man den Schmerz dadurch, dass man ihn leugnete. Doch das ist heutzutage längst überholt. Zum Glück! Heute erkennt man den Schmerz nicht nur als Qual an, sondern die Mediziner versuchen, seine Intensität einzuschätzen, um ihn besser bekämpfen zu können, sogar bei den ganz Kleinen schon.
Bei der Ankunft in der Klinik kommt Thaïs sofort in die Obhut einer auf Schmerztherapie spezialisierten Ärztin. Diese medizinische Fachrichtung gibt es noch nicht sehr lange, aber sie ist unendlich hilfreich. Nach einer kurzen, gründlichen Untersuchung stuft die Ärztin den Grad der Schmerzen unserer Tochter ein; er übersteigt jedes übliche Maß. Wir wussten jedoch längst, dass er unerträglich ist, dazu brauchten wir Thaïs nur anzusehen … Die Ärztin verabreicht an Ort und Stelle die notwendigen Medikamente, um unserem Töchterchen schnell Erleichterung zu verschaffen. Schon kurze Zeit später beruhigt sich Thaïs und fällt in einen tiefen, erholsamen Schlaf.
Um meine kleine Prinzessin nicht aufzuwecken, erklärt mir die Ärztin mit halblauter Stimme, wie sie das weitere Vorgehen plant. Im heutigen Umgang mit Schmerzpatienten begnügt sich die Medizin nicht mehr damit, die körperlichen Qualen zu unterdrücken, sondern man bemüht sich, dem Schmerz zuvorzukommen, ehe er entsteht. Thaïs soll keinen Anfall mehr erleiden. Bis jetzt haben wir uns von der Geschwindigkeit überrumpeln lassen, mit der die Krankheit und damit auch die Schmerzen fortschritten. Ab sofort jedoch werden wir schneller sein.
Die Ärztin legt uns das gesamte Spektrum der für Thaïs notwendigen Medikamente dar. Es reicht von Paracetamol über das Lachgasgemisch MEOPA bis hin zu Morphinen. Die Wirksamkeit der
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