Deine Schritte im Sand
Erleichterung nicht unbedingt teilen. Die beiden bevorstehenden Sommermonate machen mich ratlos. Was sollen Gaspard und Azylis während dieser ganzen Zeit tun? Sicher werden sie sich in der Wohnung schon bald fühlen wie Raubtiere im Käfig. Und wir? Auch wir könnten einen Tapetenwechsel gut gebrauchen. Aber bis heute haben wir nichts geplant. Ich hätte mich schon viel früher darum kümmern müssen, aber ich habe die Entscheidung immer vor mir hergeschoben. Thaïs Zustand fesselt uns an Paris. Ich könnte Gaspard und Azylis zu ihren Großeltern schicken, doch ich mag mich nicht von ihnen trennen. Wie aber können wir wieder einmal aus allem herauskommen?
Plötzlich steht ein ziemlich verrückter Plan im Raum. Sehr gute Freunde haben uns für eine Woche im Juli nach Sardinien eingeladen. Die Aussicht ist zwar verführerisch, aber die Reise erscheint mir kaum durchführbar. Zumal auch Thérèse in dieser Zeit Urlaub hat. Wer würde sich um Thaïs kümmern? Nein, es geht wirklich nicht.
Loïc sieht das anders und erklärt, dass nichts unmöglich sei. Im Prinzip hat er ja recht. Es ist möglich, allerdings nur unter größten Schwierigkeiten. Zunächst einmal organisatorisch: Wir müssten Leute finden, die sich während unserer Abwesenheit um Thaïs kümmern können. Wir sondieren das Terrain in unserer Umgebung und stoßen auf ein unerwartetes Echo: Alle, die wir fragen, reagieren positiv. Natürlich unter gewissen Bedingungen. Sie wollen eine ausführliche Liste mit Anweisungen, pflegerischen Maßnahmen, Gewohnheiten und Besonderheiten von Thaïs. Loïc bietet an, diese Liste aufzustellen. Mit der für ihn typischen Professionalität schreibt er genaue Anweisungen auf, verfasst Gebrauchsanweisungen, bereitet Schaubilder vor und erstellt einen täglichen Ablaufplan.
Nachdem die praktische Seite geregelt ist, bleibt noch ein Detail, das schwieriger zu bewältigen ist als alles andere: Wir müssen uns gegenseitig überzeugen. Natürlich wissen wir, dass uns die Woche Ferien guttun wird, aber es ist so ungeheuer schmerzlich, Thaïs zu verlassen, körperlich wie auch seelisch. Es gleicht einer Amputation.
WAS FÜR EINE VERRÜCKTE IDEE! Wie konnten wir nur so weit fortreisen. Ohne sie! So ein Leichtsinn!
Am anderen Ende der Wartehalle drückt Gaspard die Nase gegen die Glasscheibe und zappelt vor Freude. »Mama, sieh mal! Das Flugzeug da! Es ist riesig! Mama, guck doch mal!« Aber ich stehe nicht aus meinem Schalensitz aus Plastik auf. Mit verdrehtem Magen suhle ich mich in meinem Schmerz. Ohne Thaïs fühle ich nur Qual. Zu wissen, dass sie wunderhübsch und schlafend in ihrem Bett in ihrem Zimmer liegt, und nicht bei ihr sein zu können! Mein Platz ist neben ihr, nicht unter der Sonne Italiens. Ich habe kein Recht zu verreisen und sie allein zu lassen. Und wenn sie nun während unserer Abwesenheit stirbt? Mein Gott, was haben wir uns bloß dabei gedacht?
Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät, alles abzublasen, heimzufahren und schnell wieder an ihr Bett zu eilen. Ich werfe einen hastigen Blick zu der großen Glasscheibe hinüber, wo Gaspard und Azylis die startenden und landenden Flugzeuge bewundern. Die beiden wirken so glücklich …
Loïc schaut in meine Richtung und winkt mir zu. Als er mein aufgelöstes Gesicht sieht, kommt er zu mir. Er kennt meinen Schmerz, denn auch er fühlt ihn. »Nur Mut. Wir haben uns richtig entschieden. Wir können nicht den ganzen Sommer lang zu Hause bleiben und uns anöden, sondern wir müssen Pläne schmieden. Pläne für die ganze Familie, die wir dann auch durchziehen. Ich bin mir sicher, Thaïs würde es so wollen. Für uns und für sich. Sie will nämlich, dass wir das Leben genießen. Jetzt machen wir erst einmal alle zusammen richtig Ferien, und zwar ohne Reue und ohne Gewissensbisse.«
Hat nicht einmal jemand gesagt, das Leben sei eine Abfolge von Trennungen? Und zwar von der Geburt bis zum Tod? Trennungen sowohl körperlicher als auch seelischer Art. Manche Trennungen erfolgen zeitweise, andere für immer; manche mit Kompromissen, andere sind radikal; manche geschehen sanft, andere tun weh. Man kehrt sich ab, man emanzipiert sich, man wird auseinandergerissen, man scheidet voneinander.
Selbstständigkeit ist die Voraussetzung für das Erlernen des Lebens. Wer hat mehr Probleme mit dieser Erkenntnis – die Kinder oder die Eltern? Ich leide, wenn ich auch nur für kurze Zeit von Thaïs getrennt bin. Es ist mir gelungen, das Band ein wenig zu lockern, indem ich das
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