Deine Schritte im Sand
ein Sachkundiger oder ein aufmerksamer Verwandter – kann den Tag und die Stunde voraussagen. Und vielleicht ist das auch gut so …
Diese Begegnung mit dem unmittelbar bevorstehenden Tod, mit dieser unermesslichen Qual und abgrundtiefen Leere, die ich in meinem Innersten gespürt habe, hätte mich vernichten können, doch sie hat mich gestärkt und mir eine Last von den Schultern genommen. Schluss mit den heldenhaften, stoischen, tapferen Vorsätzen! Ich bereite mich nicht mehr auf den Abschied von Thaïs vor. Seit heute weiß ich, dass es verlorene Liebesmühe ist. Und dass es nicht das ist, was letztlich zählt. Es ist ganz egal, wie ich reagiere, wenn sie uns eines Tages verlässt. Ich werde ihr so zur Seite stehen, wie ich in Wirklichkeit bin: einfach nur als ihre Mama, mit all meinem Schmerz, meiner unendlichen Furcht, meinen Tränen, meiner Schwäche, aber auch mit meiner ganzen, großen Liebe.
Auch Loïc wird bei ihr sein, das weiß ich. Er wird uns nicht im Stich lassen. Trotz aller Prüfungen. Wie an diesem Nachmittag, als mein Herz sich vor Schmerz wand und sich eine hoffnungslose Einsamkeit einnisten wollte. In einer solchen Situation ist kaum vorstellbar, dass jemand anderes ebenso leiden kann. Noch nicht einmal der Mensch, der an unserer Seite weint.
Als Thaïs mit dem Tod rang, haben Loïc und ich uns unendlich weit voneinander entfernt gefühlt. Jeder war allein in seinem Schmerz. Er, der Vater, unfähig, sein Kind zu schützen; ich, die Mutter, unfähig, es am Leben zu erhalten. Zwischen uns entstand ein Riss, der zum unüberwindbaren Abgrund hätte werden können, wenn wir uns nicht vorgesehen hätten. Es genügt nicht, sich aneinanderzuschmiegen, um einander nah zu sein. Man muss selbst im tiefsten Leid die Kraft aufbringen, die Tränen des anderen zu trocknen. Man muss sich ihm zuwenden und spüren, wie er mit dem Schmerz lebt. Wir haben den fatalen Riss rechtzeitig erkannt und ihn gekittet, indem wir uns geliebt, miteinander geredet und einander zugehört haben. Und indem wir miteinander fühlten.
Und von diesem Ausgangspunkt aus werden wir, verliebter denn je, einen Schritt weitergehen. Die gemeinsam ausgestandene Angst, Thaïs für immer zu verlieren, wirft ein neues Licht auf unsere Zukunft. Wir haben gesehen, wie das Leben sie verließ; jetzt werden wir jeden Augenblick mit ihr als unschätzbar wertvollen Aufschub und gesegnetes Geschenk genießen.
Bis heute, so muss ich gestehen, habe ich jeden Abend gedacht: »Wieder ein Tag weniger mit ihr«. Von jetzt an aber möchte ich jeden Abend sagen können: »Heute haben wir wieder einen Tag mehr mit ihr erleben dürfen.« Es ist nur eine Frage der Perspektive, die jedoch alles verändert. Wir werden Thaïs genießen. Bis zum letzten Moment. Danach bleibt uns unser ganzes restliches Leben, um mit dem Verlust fertigzuwerden.
D IE FLAMME ZITTERT, WIRD SCHWÄCHER , zögert und verlischt schließlich mit einem kleinen, dunklen Rauchfähnchen. Mit konzentriertem Gesichtchen hat Azylis ganz allein ihre erste Geburtstagskerze ausgepustet. Eine hübsche, rosa Kerze, die aufrecht mitten in einem großen Geburtstagskuchen prangt. Als wir applaudieren, jubelt Azylis. Ihr Lächeln spiegelt Stolz und Glück wider. Unseres ebenfalls. Ein Jahr. Sie ist schon ein Jahr alt.
Azylis’ erstes Lebensjahr kann man folgendermaßen zusammenfassen: eine Stammzellenübertragung, zwei Blutgruppen, drei Monate auf der Isolierstation, vier Krankenhausaufenthalte pro Monat, fünf verschiedene Kliniken, sechs Monate Stubenarrest, sieben armselige Kilo Gewicht, acht Tage Chemotherapie, neun physiotherapeutische Anwendungen pro Monat, jeweils zehn Minuten, um einen Schluck hinunterzubringen, insgesamt elf Kernspintomografien, Scans und Lumbalpunktionen, zwölf Monate harter Prüfungen …
Aber auch so: ein Lächeln, zwei große, schelmische Augen, drei kleine Zähnchen, vier Fortbewegungsmittel (Hände und Füße), die Höchstgeschwindigkeiten vorlegen, fünf hellwache Sinne, sechs Zentimeter langes Haar, sieben zufriedenstellende Kilo Gewicht, acht Sekunden freies Stehen, ohne sich festzuhalten, neun Monate mit uns zusammen zu Hause, zehn flinke Finger, elf Stunden friedliches Durchschlafen pro Nacht, zwölf Monate Glück!
Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, meine süße Azylis!
MIT DEN LETZTEN JUNITAGEN endet auch das Schuljahr. Gaspard verstaut seinen Schulranzen, räumt Hefte, Bücher und Mäppchen fort und seufzt zufrieden: »Endlich Ferien!«
Ich kann seine
Weitere Kostenlose Bücher