Deine Schritte im Sand
sie manchmal auch, dass ihre Gebärden Thaïs beruhigen können. Wenn sie ihr zum Beispiel die Hand hält, damit sie weniger zittert. Wenn sie ihr den Mund mit einem Lätzchen abwischt. Wenn sie ihre Wange an die der Schwester legt und mit den Händen durch ihr Haar fährt.
In diesen besonderen Momenten ist Azylis nur zärtlich und sanft. Gleich anschließend aber gibt sie wieder ihrer überschüssigen Energie nach und krabbelt hurtig davon, um ihr eigenes Leben zu leben. Glücklich. Immer glücklich.
ICH LIEBE DIE ROUTINE . Noch vor einem Jahr hätte ich mir nicht vorstellen können, jemals so etwas zu sagen. Ich mochte keine eintönigen Gewohnheiten. Schon bei den ersten Anzeichen ging ich dagegen vor. Ich wollte verhindern, dass sich Alltäglichkeit einschlich. Unser Leben sollte keinem vorbestimmten Rhythmus folgen. Allzu oft hatte ich gehört, dass Routine der Feind jedes Liebeslebens ist. Heute jedoch denke ich anders. Inzwischen liebe ich das täglich wiederkehrende Einerlei, denn es ist der untrügliche Beweis dafür, dass alles störungsfrei läuft. Und davon möchte ich so lange wie möglich profitieren. Das Gleichgewicht ist fragil, die Ruhe trügerisch. Im Augenblick stören weder größere Zwischenfälle noch massive Sorgen unsere schöne Ruhe. Und wir genießen diese gesegnete Zeitspanne ohne Störungen und Aufregung.
Unsere Organisation hat sich im Großen und Ganzen gut eingespielt. Thérèse ist absolut zuverlässig. Zum Glück! Innerhalb von weniger als sechs Monaten ist sie für uns unentbehrlich geworden. Auch die häusliche Krankenpflege funktioniert einwandfrei. Die vier Krankenschwestern wissen genau, was Thaïs braucht, und beherrschen alle notwendigen Handgriffe fast im Schlaf. Die Versorgung mit Sauerstoffflaschen, künstlicher Nahrung und anderen medizinischen Utensilien geht reibungslos vonstatten. Der gute Wille von Freunden und Familie lässt nicht nach. Man unterstützt uns nach wie vor gern bei der Beaufsichtigung von Thaïs. Der Physiotherapeut kommt jeden Tag und erleichtert ihr mit seinen Übungen das Atmen. Seit einiger Zeit kümmert er sich außerdem zweimal in der Woche um Azylis, um die leichten motorischen Schwierigkeiten zu beheben, die sie aus den langen Monaten der Isolation zurückbehalten hat.
Die Ergebnisse der alle vier Monate stattfindenden Untersuchung von Azylis sind nach wie vor ermutigend. Oder wie ihr Bruder es so nett ausdrückt: Sie bekommt gute Noten. Zwar ist die Nervenleitgeschwindigkeit leicht gesunken, aber so geringfügig, dass wir uns keine Sorgen zu machen brauchen. Das hoffe ich zumindest …
Gaspard bereitet uns nicht die geringsten Sorgen. Sein inneres Gleichgewicht setzt uns in Erstaunen. Er geht gern zur Schule, liebt seine Familie, spielt ausgezeichnet Rugby und führt ein glückliches Leben. Seine beiden Schwestern sind sein Ein und Alles. Er findet sie bildhübsch. Für ihn sind sie die einzigen Mädchen, die überhaupt irgendein Interesse verdienen.
Thaïs hält sich befriedigend. Ein Tag verläuft wie der andere. Nur ab und zu stören ein Fieberschub, eine ungleichmäßige Atmung oder ein unregelmäßiger Herzschlag die Eintönigkeit. Doch diese Krisen dauern nie lange an und verschwinden fast immer von selbst. Und das Leben geht weiter.
Loïc ist beruflich erfolgreich, wird befördert und strebt neue Herausforderungen an. Auch das ist ein positives Zeichen. Er hat wieder Vertrauen in die Zukunft. Was mich angeht, so gelingt es mir nach und nach, im Haus ein gewisses friedliches und hoffnungsvolles Gleichgewicht herzustellen.
Ja, Routine ist etwas Schönes.
E S GIBT AHNUNGEN, DIE NIE TÄUSCHEN . Das gilt zum Beispiel für das Gespür einer Mutter, dass das Leben ihres Kindes erlischt. Ich brauche die Diagnose der Krankenschwester nicht, um den Ernst der Lage zu begreifen. Ich brauche auch nicht die schrillen Signaltöne der Überwachungsgeräte, um zu wissen, dass der Abschied unmittelbar bevorsteht.
Es ist ein sonniger Pfingstsonntag, und Thaïs durchlebt ihre letzten Augenblicke. Der wunderbar leichte und schöne Vortag erscheint mit einem Mal weit entfernt. Gestern war Thaïs mit rosigem Gesicht und regelmäßigem Atem aufgewacht. Alles schien bestens zu laufen. So gut, dass wir wagemutig waren. Wir machten uns für ein paar Stunden aus dem Staub. Und zwar aus einem ganz besonderen Anlass. Gaspard, Loïc und ich zogen uns hübsch an und nahmen an der Hochzeitsfeier von Nicolas teil. Nicolas ist Gaspards Taufpate. Die Mädchen
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