Deine Schritte im Sand
unordentlichen Spielzimmer, einem immer vollen Kühlschrank, gemütlichen Kaminfeuern, molligen Daunendecken auf immer bereiten Betten, Brombeerpflückaktionen für selbst gemachte Marmelade, Sonnenbädern am Pool, Kutschfahrten mit der vor den Wagen gespannten Eselin Berthe, Baumhäusern und herrlich wilden, häuserfreien Wiesen ringsum. Hier fühlt man sich das ganze Jahr hindurch herzlich willkommen. Les Vallets – das Haus, das ich liebe und das wir alle immer nur »Glückshaus« nennen.
Meine Eltern stehen bereits an der Tür und erwarten uns voll Ungeduld. Eine ganze Kinderschar hat uns schon am Ende des Wegs aufgelauert. Als sie den Krankenwagen erblicken, laufen sie sofort zum Haus und schreien wild durcheinander: »Sie kommen! Sie sind da!« Der Krankenwagen biegt in die schattige Allee ein. Das Haus taucht zwischen den Büschen auf, und ich beginne zu weinen. Aus Nervosität, Erleichterung und Freude.
Meine Eltern haben einen Raum im Erdgeschoss zum Zimmer für Thaïs umfunktioniert. Es ist ein schönes, lichtdurchflutetes Zimmer, das gleichzeitig ruhig, aber auch zentral liegt. Sie soll sich nicht vom Familienleben ausgeschlossen fühlen. Alle Geräte sind bereits aufgebaut und können sofort benutzt werden. Sie stehen genau wie in Paris, um Thaïs nicht zu irritieren. Das Sauerstoffgerät links vom Bett, der automatische Nährflüssigkeitsspender rechts neben dem kleinen Tisch, auf dem Medikamente abgestellt werden können.
AN ALLES IST GEDACHT . Vorsichtig wird Thaïs auf das Bett gelegt. Dieses Mal verzieht sie das Gesicht nicht. Kaum dass sie ein Auge öffnet. Und sofort schläft sie wieder ein. Aber es war auch wirklich ein anstrengender Tag. Alle verlassen das Zimmer auf Zehenspitzen. Ich schließe die Tür und seufze tief auf. Uff, es ist vollbracht! Sie ist hier, und wir sind hier. Für einen ganzen Monat!
Die Koffer können wir auch später noch auspacken. Eine halbe Stunde nach unserer Ankunft klopfen zwei mit Medikamenten und Verbandszeug beladene Krankenschwestern an die Tür. Freundlich lächelnd stellen sie sich vor. Chantal und Odile. Sie kommen, um ihre kleine Patientin kennenzulernen, denn sie werden sich während unseres Urlaubs um Thaïs kümmern. »Im Prinzip ist es so ähnlich wie die häusliche Krankenpflege in Paris«, erklärt Chantal. Die beiden Krankenschwestern gehören einem ausschließlich in der Palliativpflege tätigen Team an. Eigentlich sollte ich mich freuen, doch als sie ihre Taschen in einer Zimmerecke abstellen und an Thaïs’ Bett treten, schnürt sich mir die Kehle zusammen.
Palliativpflege … Der Begriff erzeugt bei mir eine Gänsehaut. Er klingt so traurig wie Schwanengesang, denn er ist gleichbedeutend mit dem nahen Tod. Natürlich weiß ich, dass Thaïs bald sterben wird, aber dieses Wissen schmerzt. Innerlich sträube ich mich dagegen, dass sich ein palliativmedizinisches Team um sie kümmert. Doch die Krankenschwestern kennen die elterlichen Empfindlichkeiten. Mit viel Geduld und Zeit erklären sie uns ihre Vorgehensweise. Sorgfältig achten sie darauf, uns nicht zu brüskieren. Immer wieder sprechen sie von »sanfter Behandlung«, »Behagen«, »Lust« und »wohlfühlen«. Nie definieren sie den Kranken über seine Krankheit. Sie bezeichnen ihn nicht als »Patienten«, sondern als »Person«. Ihr Grundsatz lässt sich in dem bereits zitierten Satz zusammenfassen: »Man muss versuchen, den Tagen Leben zu geben, wenn man dem Leben keine Tage mehr geben kann.« Und genau darin liegt der Sinn der Palliativpflege, oder? Mein Leitmotiv ist das ohnehin. Also vorwärts!
CHANTAL HATTE RECHT DAMIT, auf die Unterschiede zwischen ihrer Arbeit und der Arbeit der häuslichen Krankenpflege hinzuweisen. Odile und sie verlassen die ausgetretenen Pfade der Schulmedizin, um Thaïs das Leben zu erleichtern. Sie behandeln sie mit einer Vielzahl neuer Handgriffe, Massagen und ausgeklügelter Tricks. Sie benutzen Salben, duftende Öle und Cremes, um ihrer kleinen Patientin Erleichterung zu verschaffen. Ihre Leitlinie lautet: so wenige Medikamente und eine so einfache Behandlung wie möglich. Je einfacher die Behandlung zu handhaben ist, desto besser wirkt sie. Auf der anderen Seite zögern sie keine Sekunde, schwere Geschütze aufzufahren, wenn es die Situation erfordert. Wie zum Beispiel Mitte August, als die neuropathischen Schmerzen von Thaïs ein neues Stadium erreichen. Mit Zustimmung des Arztes setzen die beiden Schwestern sofort Morphin ein. Das Pflegeteam in Paris
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