Deine Seele in mir /
Die scheint regelrecht in Amys Blick zu versinken. Sie schaut ihre Tochter so tief und prüfend an, dass die Gänsehaut auf meine Arme zurückkehrt. Auch Peter steht absolut still und fast ein wenig ehrfürchtig neben dieser Szene, der eine besondere, schwer fassbare Magie anhaftet.
Amy hält dem durchdringenden Blick ihrer Mutter ohne Problem stand. Sie erwidert ihn offen, fest und hoffnungsvoll, mit einem Funken von Wehmut. Auch einen letzten Hauch ihres Kampfgeistes erkenne ich, über Evelyns Schultern hinweg, in Amys Augen.
»Weißt du, was eigenartig ist?«, fragt Evelyn plötzlich in die minutenlange Stille hinein. An wen auch immer diese Frage gerichtet war – niemand antwortet. »All diese Dinge, die du über Amy weißt, und die Art, wie du Klavier spielst … das ist wirklich verwunderlich, aber es hat mich nicht zum Grübeln gebracht«, erklärt Evelyn. Mein Atem setzt aus. »Es war etwas anderes, das mich nachdenklich machte. Alles, was du weißt, könntest du irgendwie – keine Ahnung, wie, aber
irgendwie
eben – herausbekommen haben. Ich weiß nicht, was es dir bringen würde und was du mit einem solchen Auftritt beabsichtigen wolltest. Doch Peter hat recht. Er könnte komplett inszeniert sein. Nur
wer,
um Gottes willen, könnte dir diesen einmaligen Ausdruck in die Augen gelegt haben, den nur meine Amy hatte? Und woher sollte es kommen, dass du dich genauso bewegst und genauso sprichst wie sie? Du atmest wie sie und verdrehst die Augen wie sie, bist genauso dickköpfig wie sie und absolut unwillig, auf halber Strecke aufzugeben. Wer könnte all diese Dinge von Amy so gut wissen und sie so perfekt umsetzen? Du kannst sie ja nicht einmal gekannt haben.«
Noch immer sieht sie der erstarrten Amy tief in die Augen, doch Peter scheint diese Fragen so zu werten, als hätte seine Frau sie ihm gestellt.
Energisch schüttelt er den Kopf. »Nein!«, ruft er aus. »Nein, Evelyn, lass dich nicht einwickeln! Das ist nicht Amy. Unsere kleine Amy ist tot, Liebes. Komm! Komm schon, ich möchte, dass sie das Haus verlassen.«
»Mom?«, höre ich Amy flüstern. »Sieh mich an! Ich bin es. Ich weiß noch, dass der Riese in meiner Lieblingsgeschichte Igor hieß und der Zwerg Linus, und ich weiß jetzt auch, dass
du
dir diese Geschichte ausgedacht hast, denn ich habe in den vergangenen anderthalb Monaten wirklich alles versucht, um sie zu finden. Verzweifelt habe ich sämtliche Märchenbücher durchforstet, bis mir endlich klarwurde, dass du diese Geschichte erfunden hast.«
Evelyns Stimme klingt sehr monoton, ihr Blick ist leer. »Du hast immer geweint, wenn …«
Amy versteht die Pause, die ihre Mutter einlegt, richtig – als eine Aufforderung.
»… Wenn der dumme Igor den kleinen Linus in die Hosentasche gesteckt hat, ohne zu wissen, dass die Tasche ein Loch hatte. Linus ist da durchgefallen, und dann war er weg.«
Ich halte den Atem an und spüre, dass – sosehr er sich auch dagegen wehren mag – Peter exakt das Gleiche tut.
Evelyn hält noch immer Amys Hände. Ohne eine Gefühlsregung in ihrem ausdruckslosen Gesicht blickt sie nun auf die schmalen, langen Finger ihrer Tochter hinab und streicht sanft darüber.
»Weißt du noch, als wir in diesem schrecklichen Sommer, kurz bevor es geschah, in Coeur d’Louise waren? Nur wir beide. Wir haben Eis gegessen und sind dabei durch den Park geschlendert. Wir setzten uns auf eine der Bänke und fütterten die Enten. Ich habe dir etwas ins Ohr geflüstert. Einen Spruch, der dir sehr gefiel.«
Erneut sieht Evelyn zu ihrer Tochter auf. In ihren matten Augen glimmt zu gleichen Teilen Hoffnung und Herausforderung auf.
Amy presst ihre Lippen fest aufeinander und hält krampfhaft die Tränen zurück. Dann, wie in Zeitlupe, beugt sie sich vor und geht dicht an das Ohr ihrer Mutter heran. Sehr leise und für Peter und mich nicht vernehmbar, flüstert sie Evelyn etwas zu.
»Erdbeereis und Sonnenschein, kann das Leben schöner sein?« Zittrig kommen die Worte über meine Lippen. Zittrig, doch ohne jeden Zweifel …
Sofort schnellt Evelyns Hand vor ihren Mund.
Geistesgegenwärtig fange ich sie gerade noch auf, als ihr in derselben Sekunde die Knie wegsacken.
»Gott, Evelyn!«, ruft Peter erschrocken und sieht dann böse von mir zu Amy und wieder zurück zu mir.
»Seht ihr, was ihr tut? Ich hatte euch doch gebeten zu gehen. Raus jetzt!«
Mit wackeliger Autorität in seiner donnernden Stimme versucht er, seinen Worten Gewicht zu verleihen, doch er wirkt dabei alles
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