Deine Seele in mir /
behutsam zu erweichen. Er schluckt schwer; das Kinn zuckt unter seinem zusammengepressten Mund.
Die Atmosphäre ist so zerbrechlich, dass wir zunächst kaum wagen zu atmen. Erst nach einer Ewigkeit durchbricht Amy behutsam die Stille. Ihre Stimme ist so sanft und leise, dass jedes noch so kleine Geräusch sie überdecken würde.
Reglos beobachte ich, wie sie sich langsam, mit der Geschmeidigkeit einer Katze, auf Peter zubewegt. »Weißt du noch, Daddy, wir waren gemeinsam am Bach. Ich habe so lange gequengelt, bis du mich mit zum Angeln genommen hast, und dann war es mir viel zu langweilig, so lange still zu warten. Du hast mir gezeigt, wie man eine Figur aus einem Zweig schnitzen kann. Das werde ich nie vergessen.«
Für einen Moment sieht Peter in Amys Gesicht, dann blickt er wieder zu mir. Ich hebe meine gespreizten Hände und schüttele mit dem Kopf.
»Sieh mich nicht an, ich wusste nichts von diesen Bildern. Ich sehe sie gerade auch zum ersten Mal«, versichere ich ruhig.
Peter nickt; er weiß, dass ich die Wahrheit sage. Dann schaut er zu den anderen Rahmen und wendet einen nach dem anderen um. Die unterschiedlichsten Erlebnisse aus Amys Kindheit kommen zum Vorschein.
Peter stellt alle Bilder nebeneinander auf. Bald sind wir umringt von alten Familienerinnerungen, die so privat sind, dass nicht einmal ich sie alle kenne.
Es ist schlichtweg atemberaubend, wie talentiert Amy ist. Doch es ist noch mehr – viel mehr, was die Qualität ihrer Bilder ausmacht. Jedes Portrait, jeder Gegenstand – ja, jeder einzelne Pinselstrich ist Bild gewordenes Gefühl. Und auch, wenn nach wie vor vollkommene Stille in dem kleinen Wohnzimmer herrscht, das mir als Kind so viel größer erschienen war, so bin ich mir doch sicher, dass auch Evelyn und Peter die Liebe spüren, die in diesen Gemälden steckt.
Unter den Motiven entdecke ich Amys stickende Uroma vor dem alten Plattenspieler – ihre allabendliche Lieblingsbeschäftigung: Jazz und Kreuzstich; den Fernseher lehnte sie ab.
Sie war eine nette, ältere Dame. Schmerzlich wird mir bewusst, dass sie wohl nicht mehr lebt.
Mein Blick schweift weiter und erfasst Amy unter dem Weihnachtsbaum, mit dem großen Kaleidoskop, das sie sich so sehr gewünscht hatte.
Daneben erspähe ich Peter, der mit einem Strohhalm, einem Papiertaschentuch und Leukoplast das Beinchen eines verletzten Vogels schient. Amy und ich hatten ihn unter der Hecke in ihrem Vorgarten gefunden, und Amy war untröstlich gewesen, bis Peter ihn fachmännisch verarztet und Evelyn ihm ein Krankenlager in einem alten Kaninchenstall eingerichtet hatte. In den folgenden zwei Wochen hatten wir – sehr zum Unmut unserer Mütter – auf der Suche nach Würmern und sonstigen Insekten sämtliche Blumenbeete umgegraben. Eines Tages, nach der Schule, fanden wir den Käfig leer auf der Veranda vor. Der Vogel wäre, angeblich vollständig kuriert, davongeflogen, versicherte man uns.
Erst jetzt, den Blick auf Amys Gemälde gerichtet, kommen mir vage Zweifel an dieser Aussage.
Weiter sehe ich Evelyn, die bei dem Versuch, Amy in den Schlaf zu wiegen, selbst eingeschlafen ist, während das Kleinkind in ihren Armen noch immer fröhlich lacht und offensichtlich hellwach auf ihrem Schoß herumhüpft.
Ein Picknick im Mohnfeld; Amy mit einem Riesenfisch im Arm – direkt am See, in viel zu großen Gummistiefeln; Evelyn auf Amys Schaukel und Peter, der sie lachend anschubst ...
Ich ergreife Amys Hand und ziehe sie zu mir heran. »Das ist wunderschön«, flüstere ich ihr zu. Sie lehnt ihren Kopf an meinen Oberkörper und schmiegt sich an mich.
Evelyn und Peter sind nach wie vor sprachlos.
Erst nach einer Weile kommt Evelyn auf uns zu und schließt ihre Tochter wieder fest in die Arme.
»Meine Süße«, wispert sie unter Tränen. »Ich kann es nicht fassen. Sag mir, dass ich nicht träume. Bitte!«
Peter steht noch immer inmitten all dieser Kunstwerke und sieht sich um. Sein Blick schweift über jedes einzelne Motiv. Er scheint alle Details sehr genau und prüfend zu erfassen. Natürlich gibt es nicht die kleinste Unstimmigkeit in all diesen Bildern, und so gleiten seine Augen schließlich zurück zu dem ersten Gemälde, welches ihn selbst mit seiner kleinen Tochter zeigt, schnitzend am Bach.
»Amy«, flüstert er und streichelt sanft über die in Öl gemalten, hellblonden Haare des kleinen Mädchens. Dann wendet er sich um und sieht seine Tochter direkt an. Tränen schimmern in seinen Augen, seine Lippen beben
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