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Deine Seele in mir /

Deine Seele in mir /

Titel: Deine Seele in mir / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Ernst
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dann, ohne mich zu erlösen, verwischt sie langsam bis ins Unkenntliche und wird nahtlos zu einem anderen, sehr dunklen Bild.
    Ich sehe direkt in Amys angst- und schmerzverzerrtes Gesicht. Ich sehe es so, als wäre
ich
derjenige, der sich gerade gewaltsam zwischen ihre dünnen Kinderbeinchen gezwängt hat; als wäre
ich
derjenige, der sie würgen und vergewaltigen würde; als wäre ich es, der sie in kranker Lust anstöhnt.
    Ich kann dieses Bild nicht ertragen, nicht mal für eine Sekunde. Doch ich muss!
    In diesem Augenblick dringt ein röchelndes Geräusch zu mir vor. Ich realisiere nicht sofort, dass dieses Röcheln nicht von meiner Vision einer verzweifelt kämpfenden Amy kommt, die in diesem Moment unter mir erschlafft. Sekunden vergehen, bis ich begreife, was wirklich geschehen ist. Schlagartig lockere ich meinen Griff.
    Meinen Griff um Wilsons Hals.
    Als ich es endlich schaffe, meine Hände von ihm zu nehmen und mich auf diesem Wege auch aus dieser schrecklichen Vision zu befreien, ist es so, als würde mich jemand packen und festhalten. Ich darf noch nicht gehen.
    Es geschieht während der Länge eines Wimpernschlages – in dem winzigen Augenblick, als ich meine Finger von ihm löse –, doch ich sehe alles völlig klar: Als würde jemand an der Zeit schrauben und die Sekunden zu Stunden dehnen, sehe ich Wilson, der auf einem Dach steht. Ein Teil der Dachpfannen ist entfernt, die Balken darunter liegen frei. Wilson hält lange Nägel zwischen seinen Lippen und einen Hammer in der Hand. Der Ruf seines Namens ertönt.
    Das ist Diane!
    Er dreht sich um, blickt über den weißen Zaun in den benachbarten Garten. Nein, in seinen Garten. Er selbst ist bei den Nachbarn.
    Die Gaube, der Ausbau, schießt es mir durch den Kopf.
    Diane steht an dem großen Teich und füttert die Schildkröten.
    Sie winkt ihm zu. Wilson erwidert ihren Gruß mit einem Lächeln, jedoch ohne jede Gefühlsregung. Eiskalt.
    Dann wendet er sich ab, dreht den Kopf in die entgegengesetzte Richtung und blickt über seine linke Schulter hinweg in den fremden Garten hinab. Er beugt sich etwas zurück, lugt über die Dachrinne. Direkt vor der Veranda liegt ein aufgeschütteter Sandhaufen. Ein Mädchen sitzt davor. Wilsons Atem beschleunigt sich, Erregung durchflutet ihn, wallt durch seinen Körper. Die Kleine hat blonde Haare, die ihr in langen Zöpfen über die Schultern fallen. Mein Herz setzt aus.
    Sie singt. Eine unschuldige Melodie begleitet ihr Spiel; ihre Stimme ist hell und glockenklar. Sie spürt Wilsons Blick nicht, ahnt nicht, dass er sie beobachtet. Eindringlich.
    Sein Atem geht rau und tief, sein Herzschlag wird immer schneller. Unvermutet springt das Mädchen auf und verschwindet hüpfend unter dem Dachvorstand.
    Wilson schreckt zusammen, als hätte ihn jemand gekniffen. Seine rechte Hand wandert in seinen Schritt, die Finger fahren über den gespannten Stoff seiner Jeans. Dann drückt er zu. Seine Augen blitzen auf, und ein hämisches Grinsen zieht sich über sein Gesicht, als er sich abwendet, einen Nagel zwischen seinen Lippen hervorzieht und ihn mit nur zwei Schlägen in dem Balken versenkt.
    In diesem Augenblick löst sich auch meine letzte Fingerspitze von seinem Hals. Wie durch einen starken Sog werde ich zurück ins Hier und Jetzt geschleudert.
    Die geballte, furchtbare Erkenntnis, mit der ich zurückkehre, drückt mich nieder. Ich sacke zusammen, stütze mich ab, um nicht zu fallen. Mir ist unfassbar schlecht, und ich würde mich wohl sofort übergeben, wenn ich nur atmen könnte. Wenn ich nicht einen Wimpernschlag nach meiner Rückkehr so maßlos erschrecken würde. Ich habe ihn gewürgt. Wilson! Amys Mörder!
    Es fehlte nicht viel, und ich hätte ihn wohl erwürgt. Das wird mir schlagartig bewusst. Noch immer windet er sich unter mir. Als er wieder Luft bekommt, schreit er mich wütend an.
    »Was tust du da, um Gottes willen? Willst du mich umbringen?«
    »Sei nicht albern, Wilson!« Zu meiner Verwunderung gibt mein Lachen nicht mal die Spur meiner Nervosität preis.
    »Das gehört zur Therapie. Ist eine japanische Art der Massage. Kann ziemlich unangenehm sein, zugegeben. Ist aber auch eine sehr wirkungsvolle Methode. Besonders wenn man im Nacken so verspannt ist wie du.« Keine Ahnung, woher ich diese Worte nehme, aber sie klingen recht überzeugend und scheinen es auch zu sein. Wilsons Gesichtsausdruck entspannt sich wieder.
    »Ich dachte wirklich, du willst mich erwürgen.« Er grinst, doch es wirkt verkniffen und noch

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