Deine Seele in mir /
sie Tom mit der flachen Hand vor den Brustkorb.
Nur einen Moment später lachen wir gemeinsam.
Ich erinnere mich nicht, wann ich das letzte Mal so unbeschwert war. Ein gutes Gefühl.
»Hier«, sagt Kristin schließlich, während sie sich die letzte Träne aus den Augenwinkeln wischt. »Das ist für dich. Von Julie.« Sie reicht mir ein großes, flaches Paket rechteckigen Formats.
Verwirrt schaue ich sie an. »Für mich? ... Von Julie?«, wiederhole ich wie ein Schwerhöriger.
»Ja, von Julie«, bestätigt Tom. »Kristin und ich sind uns einig, dass sie dir bestimmt eins ihrer ...« Ein weiterer Klaps trifft seinen Oberarm und lässt ihn verstummen.
»Wirst du wohl still sein! Lass den Jungen doch erst einmal auspacken. Du verdirbst die ganze Überraschung, Tom. Und das nur zehn Sekunden, bevor er es ausgepackt hat«, zischt Kristin. Dann lacht sie wieder. »Das wäre selbst für dich eine besondere Glanzleistung!«
Die beiden sind wirklich süß. Sie erinnern mich an meine Eltern.
»Danke«, sage ich schnell und lasse meinen Blick noch einmal zu Julie wandern, bevor ich mein Weihnachtsgeschenk aufreiße.
Es ist das erste seit dreizehn Jahren.
Ich ertappe mich beim Raten.
Ein Bild!
Zuerst ertaste ich den breiten Rahmen, dann blitzt er mir silbern entgegen. Eine weiße, undurchsichtige Folie schützt die darunterliegende Leinwand und macht es für mich noch eine Weile spannend, bis ich die Klebestreifen weit genug gelöst habe, um den Rest der Folie nach unten wegzureißen.
Als ich meinen Blick endlich auf das Gemälde richte, blenden mich die grellen Farben fast ein wenig. Nur eine Sekunde später realisiere ich das Motiv in vollem Ausmaß.
Ich erstarre auf der Stelle. Wie angewurzelt sitze ich auf der Kante des Sessels. Meine Hände, als wären sie gelähmt, schaffen es nicht, das Bild noch länger zu halten, und so fällt es mir von den Knien und kommt auf dem Teppichboden vor meinen Füßen zu liegen.
Ein leuchtend gelbes Sonnenblumenfeld erstreckt sich vor mir, darüber ein unrealistisch blau wirkender Himmel. Doch ich weiß nur zu genau, dass die Farbe dieses Himmels perfekt gewählt ist.
Hinter dem Feld erkennt man die Dächer einiger weißer Häuschen. Mein fassungsloser Blick gleitet über das scheinbar willkürliche Auf und Ab dieser Giebellandschaft. Das große Haus der rothaarigen Christa und ihrer Familie, der bezeichnend lange Schornstein. Daneben das winzige Haus von Amys Urgroßmutter, dann der spitze Giebel des Hauses von Tante Rosalia, daneben Amys Elternhaus mit den beiden kleinen Dachfenstern und dann – zu guter Letzt – unser Haus mit dem einzigen blauen Dach.
Saint Toulouse, unverkennbar und detailgetreu. Innerhalb weniger Sekunden erfassen meine Augen jede noch so unbedeutend wirkende Einzelheit dieses Bildes: der verblühende Lavendel am unteren Bildrand, die Richtung, in welche die Sonnenblumen ihre Köpfe gedreht haben, der schmale Pfad, der sich von oben durch das Feld schlängelt, bis zu den beiden Kindern, die lachend hintereinander herrennen. Das Mädchen hält ihren Strohhut; ihre blonden, geflochtenen Zöpfe stehen fast waagerecht im Wind. Der Junge läuft hinter ihr her. Mit seinen ausgebreiteten Armen scheint er ein Flugzeug zu imitieren. Frei und ausgelassen wirken die beiden, völlig unbeschwert.
Das Blut gefriert in meinen Adern, und ich springe ruckartig von meinem Sessel auf – entsetzt, geschockt, bis auf die Knochen verängstigt.
Ohne noch irgendetwas von dem wahrzunehmen, was um mich herum geschieht, stürze ich aus dem Haus, springe in mein Auto und rase bereits Sekunden später über die lange, einsame Straße. Ich fahre, viel zu weit weg mit meinen Gedanken und bestimmt auch zu schnell. Ziellos.
Das Bild habe ich einfach zurückgelassen. Ebenso wie Tom und Kristin. Völlig verstört durch meinen panischen Aufbruch schienen die beiden nicht mal bemerkt zu haben, dass Julie abrupt aufgehört hatte, zu schaukeln. Auch ihr Summen war verstummt.
Auf meinem Weg verschwimmen all die wirbelnden Gedanken in meinem Kopf. Die tatsächlichen Bilder vor meinen Augen und die meiner Erinnerungen verschmelzen zu einer gewaltigen, zähen Masse, die in sich zerläuft und mein Bewusstsein über Zeit und Raum außer Kraft setzt.
Wie ich schließlich in meine Wohnung gekommen bin, daran fehlt mir jede Erinnerung. Als ich wieder einigermaßen klar denken kann, sitze ich zusammengekauert auf dem Parkettboden, im hintersten Winkel meines Wohnraumes.
Es ist dunkel und
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