Deine Stimme in meinem Kopf - Roman
sehr ich Bruce Springsteen liebe (hab ich ihm vermutlich bei unserem Date erzählt). Ich bewundere den Kerl dafür, dass er seinem früheren Schwarm bis auf die psychiatrische Krankenstation folgt. Nachts höre ich mir
Human Touch
von Bruce und seiner Frau Patti auf dem Walkman an: Die Strophe mit »ein bisschen Verschönern und ein bisschen Farbe« bringt mich in eine Zeit zurück, in der ich mich als kleines Mädchen nach der Schule regelmäßig ins Badezimmer einschloss und mir das Gesicht bemalte – zuerst fachmännisch mit Eyeliner und Lippenstift –, um dann entschlossen eine fiese Clownsmaske daraus zu machen. Anschließend betrachtete ich die grässliche Fratze von allen Seiten. Danach wusch ich alles wieder ab und ging nach unten zum Abendessen. Vom Fratzenmalen bis zum Ritzen war es eigentlich nur ein kleiner Schritt. Wenn ich in der Zeit dazwischen ein schlimmes Wort hörte, schrieb ich es mir auf die Schenkel oder auf den Bauch und trug es unter meiner Schulkleidung zur Schülerversammlung.
Ficken, Fotze, Hure
. Vor diesen Versammlungen hatte ich immer Angst, weil ich mir sicher war, ich würde irgendwann aufstehen und die Wörter rufen, die auf meiner Haut standen.
Im Priory Hospital gibt es sehr viel verrücktere Menschen als mich. Die Hundefrau, die immer nur glotzt. Ich hielt Joan Crawford schon immer für eine großartige Schauspielerin, weil sie das Starren zu ihrem Markenzeichen machte, zu ihrem »Ding«. Die alte Frau dort ist aber mehr wie Eddie, der Hund aus
Frasier
. Sie starrt die Leute, die in ihr Blickfeld kommen, einfach nur an. Mehr tut sie nicht.
Es gibt ein sehr hübsches Mädchen, sehr sexy, das jedes einzelne Haar aus seinen Beinen zupft, um sich vom Ritzen abzulenken, und einmal, ohne zu merken, was sie tut, beugt sie sich wortlos zu mir und will mir die Augenbrauen auszupfen. Meine Katzen tun das auch, sie lecken sich so selbstvergessen, dass sie es gar nicht merken, wenn sie zufällig mal bei ihren Artgenossen landen.
Ich bin etwa drei oder vier Tage dort, als ein obdachloser junger Mann eingeliefert wird, der wie viele der Patienten auf der Straße aufgelesen worden war. Er hat sich ein Hakenkreuz auf die Stirn geritzt, weil eine Stimme es ihm befohlen hatte. Da ich große Angst vor ihm habe, zwinge ich mich, mit ihm zu reden. Er fragt, was ich auf meinem Walkman höre, und ich gestehe beschämt: »George Michael.« – »Ich mag George Michael«, sagt er empört und ärgert sich, weil es mir offenbar peinlich ist. Bei jemandem, der Stimmen hört, sollte man Popkultur nie zur Abgrenzung verwenden. Man weiß nicht, was sie zwischen den einzelnen Melodien so alles hören. An meinem letzten Tag schenke ich ihm meinen Walkman mit all meinen Songs. Ich frage mich, ob ein iPod einem den Aufenthalt in der Psychiatrie jetzt leichter macht oder ob er Fortschritte eher verhindert.
Unter uns ist auch ein reizender Mann mittleren Alters, ein kreuzbraver Familienvater mit kleinen Kindern, ruhig und nett, und ich kann beim besten Willen nicht begreifen, was mit ihm los sein könnte, da er immer total ausgeglichen und entspannt wirkt. Dann erfahre ich, dass er an einem Hochspannungsmast hochgeklettert ist und sich dabei ein Bein und einen Arm gebrochen hat. Kaum waren seine Knochen wieder heil, tat er es erneut. »Warum haben Sie es noch ein zweites Mal gemacht?«, wird er in der Gruppentherapie gefragt. »Warum derselbe Mast?«
Er schaut die Therapeutin an, als sei sie begriffsstutzig.
»Na, weil es der Mast ist, der in den Himmel führt.«
Das Priory liegt inmitten eines wunderschönen Geländes. Eine Mischung aus Edward Gorey und Aubrey Beardsley. Würde mich nicht wundern, dort auch Pfauen zu sehen, und es gibt sicher Patienten, die tatsächlich Pfauen sehen. Der ideale Ort für eine tragische Liaison. Ein Ort, um sich vor der Welt zu verstecken. Aber erst als ich diesen Ort verlasse und ins Leben zurückkehre, finde ich zum ersten Mal die wahre Liebe. Das könnte natürlich daran liegen, dass ich wieder gesund war (was ich bezweifle), oder weil sich das Gelände osmotisch in mir verwurzelt hat. Das ist Liebe: wunderschön, heimlich, überwachsen, letzte Chance.
Eines Tages spricht mich in der Cafeteria eine Krankenschwester aus der Jugendabteilung an: »Emma?« Ich blinzle. Es dauert eine Weile, bis ich sie als Freundin einer Freundin erkenne. Wir sind früher manchmal zusammen tanzen gegangen. Zum Glück bin ich zu müde und zu sehr mit Medikamenten vollgepumpt, als dass mir diese
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