Deine Stimme in meinem Kopf - Roman
Priory gehen. Ich kann mich kaum an ihn erinnern, doch seine Rechnungen habe ich alle noch. Ich habe seine Nachsorgebriefe, in denen er weder meinen Namen noch den meiner Mutter kennt, aber mein Geld will er haben. Ich sehe es als Kapitel in einem Buch von Helen Gurley Brown, der früheren Chefredakteurin von
Cosmopolitan
: »Eine moderne junge Frau kommt selbstverständlich selbst für ihre psychiatrische Behandlung auf.«
Fast unmittelbar danach will ich unbedingt wieder in mein Apartment zurück – sogar in meinem jetzigen Zustand bin ich New Yorkerin genug, um zu wissen, dass es eine Gelegenheit ist, die ich nicht verpassen darf. Es treibt mich nach Manhattan zurück. Und zu Dr. R. Ich rufe ihn von meinen Eltern aus an. Wir reden etwa eine halbe Stunde lang, und diese kurze Zeit reicht ihm, um zu wissen, dass er die Tabletten, die man mir im Priory verordnet hat, nicht gut findet. Depakote, sehr beliebt in den fünfziger Jahren – eigentlich ganz passend für mich, Vintage-Girl, das ich bin. (Vielleicht bekomme ich dasselbe Zeug wie Bettie Page, das Sexsymbol der Fünfziger, überlege ich. Irgendwie finde ich meinen Wahnsinn immer noch ganz faszinierend.) Erst etwas später erfahre ich, dass Dr. R ein ungewöhnlich begabter Psycho-Pharmakologe ist, und genau deshalb trifft es ihn so, dass er mit seiner Anfangsdosierung so danebenlag. Das nächste Mal ist sie richtig. Aber im Moment habe ich nur seine Stimme am Telefon, die mich einigermaßen stabilisiert.
16. Mai 2008
Vor neun Jahren hat mir Dr. R das Leben gerettet. Meine Eltern haben es nur ihm zu verdanken, dass sie ihre Tochter zurückbekamen. Wir stehen für immer in seiner Schuld und sind dem Himmel ewig dankbar, dass er in unser Leben trat. Im Laufe der Jahre warf ich ihm mehrmals vor, er sei ein unheilbarer Optimist. Ein Glück, dass er das war, kann ich nur sagen; sein Vertrauen und sein Enthusiasmus haben mich lange über Wasser gehalten.
Ich werde Dr. R stets in meinem Herzen tragen. Ich werde mich bemühen, seine freundliche Art und seine Gelassenheit weiterzugeben, besonders Menschen gegenüber, die krank sind und leiden, wie ich damals, bevor ich das Riesenglück hatte, von ihm unter seine Fittiche genommen zu werden.
Sein Verlust trifft mich mehr, als ich mit Worten sagen kann.
A (NEW YORK, NY)
7. Kapitel
Es gibt ein paar Fotos von mir in BH und Slip und mit kniehohen Strümpfen, auf denen ich am ganzen Leib blute. Sie wurden von einem ungenannten Fotografen gemacht, einem Fashion-Gott, in der Woche vor dem Suizidversuch.
»Vielleicht sollte ich sie behalten?«, sagt Dr. R, als ich sie ihm zeige.
»Nein.«
Ich strecke eine Hand aus. Dann gehe ich zu ihm rüber und beuge mich über ihn.
»Ich sehe dick aus.«
Er seufzt nicht und holt auch nicht tief Luft. Er notiert nur etwas.
»Sie wissen, dass Sie nicht dick sind.«
»Klar weiß ich das. Ich sagte nur, ich
sehe
dick
aus
.«
Ich nehme ihm die Fotos aus der Hand, stecke sie wieder ein und sage provozierend: »Was nützt es, so oder so zu sein, wenn einen die Nachwelt dann ganz anders sieht?«
»Ob Sie auf einem Foto dicker oder dünner aussehen als in Wirklichkeit, kann Ihnen nichts anhaben. Die eine oder andere Frau mag es ja beeinflussen. Oberflächliche, gestörte Frauen. Nicht Sie!«
Egal, wie oft ich vor ihm stand und sagte: »Ich bin oberflächlich. Ich bin gestört« –
er
hat diese Worte nie in den Mund genommen. In einer Liebesbeziehung kann man den Partner so weit bringen. Ich habe meine Lover jedenfalls immer dazu gebracht.
Wenn man mit zwanzig hinter einen Laternenpfahl pinkelt, wirkt es unbekümmert, exzentrisch und cool. Mit achtunddreißig hinter einen Laternenpfahl zu pinkeln, ist nur noch peinlich, stimmt’s? Ein Mann, der mit zwanzig hinter allen Mädchen her ist, ist ein cooler Typ. Mit achtunddreißig ist es albern. Das wissen die meisten nicht. Da man sich selbst nicht kennt, redet man sich ein, dass man zumindest die anderen bestens kennt.
Wenn uns ein geliebter Mensch verlassen hat, leiden wir deshalb so sehr, weil wir ihn so gut kannten.
Mein Schmerz um Dr. R ist gewaltig, und ich vermisse ihn sehr, denn wir hatten eine echte Beziehung. Dabei kannte ich ihn gar nicht wirklich. Insofern war er eine sichere Bank. Der sicherste Verlust, den ich mir denken kann, die größte Herausforderung. Ich meine, nach wem genau sehne ich mich eigentlich? Die wenigen Dinge, die ich über ihn weiß, weiß ich aus unseren Sitzungen und zum Teil auch aus dem
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