Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Deine Stimme in meinem Kopf - Roman

Deine Stimme in meinem Kopf - Roman

Titel: Deine Stimme in meinem Kopf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deuticke
Vom Netzwerk:
Begegnung peinlich wäre, auch nicht, als sie fragt: »Und ... wie ist es dir so ergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben?«
    Ich schaue sie kurz an. »Nicht so gut.«
    Sie lässt mich in Ruhe und geht weiter.
    Aus irgendeinem Grund ist es mir sehr wichtig, was ich im Krankenhaus trage. Ich bin noch dünn genug, um schräge Klamotten anziehen zu können.
    Haben Sie schon mal etwas echt Widerliches zum Frühstück gegessen, etwas, das Ihnen echt nicht guttut, Schokokuchen zum Beispiel, und dabei gedacht: »Igitt, wie scheußlich, ich esse besser schnell weiter. Himmel, davon wird mir kotzübel, ich sollte besser noch mehr essen?«
    Und haben Sie dann den letzten Bissen liegen lassen, weniger als den letzten Bissen, ein Häppchen nur oder sogar nur einen Krümel, und sich dann gesagt: »Na also, ich hab’s ja gar nicht aufgegessen. Es ist alles gar nicht wahr. Man verwertet die Kalorien nicht, wenn man nicht auch das letzte, klitzekleine Stückchen aufgegessen hat. Weiß doch jeder! Tja, ganz schön cool, hm?«
    Und dann geht man weg, fröhlich vor sich hin pfeifend, und stellt sich noch ekligere Sachen vor, die man zu Mittag essen würde, aber natürlich nicht bis auf den letzten Krümel. Falls das nach Bulimie klingt ... okay, ist es auch. Dahinter steckt folgende Logik: Ich habe mich auf einen Pfad begeben, auf dem ich lieber nicht wäre, und weil ich mich so schäme, gehe ich lieber schnell weiter. Irgendwann geht einem das in Fleisch und Blut über, wird zu Routine. Schmerz, den man sich selbst zufügt, resultiert aus übermäßigem Genuss – Heroin, Crack, Sex, Essen – selbst Magersucht ist eine Sackgasse, aus der man nicht mehr herausfindet – mehr Luft, mehr Nichts, ein Raum, bis zum Platzen angefüllt mit Raum. Anorexie war aber nichts für mich, hätte mir viel zu lange gedauert. Das Medium ist die Botschaft, und mein Medium war Ritzen und Bulimie.
    Henne oder Ei: Was war zuerst da? Die geplatzten Äderchen um die Augen sehen, sich in die eigenen Haare kotzen und sich dann ritzen müssen, weil man so hässlich ist? Oder den ganzen Schrank leerfuttern, um zu verdrängen, wie hässlich man durch das Ritzen geworden ist? Es ist Wahnsinn. Und wenn du nicht weißt, wer du bist, oder wenn dir dein wahres Ich entglitten ist, gibt dir der Wahnsinn wenigstens eine Identität.
    Dasselbe gilt für Selbsthass. Du bist wahrscheinlich einfach nur normal und siehst normal aus, aber das verleiht dir keine richtige Identität, nicht in dem Maß, wie Hässlichkeit es tut. Das Gefühl, normal zu sein und zu akzeptieren, dass man vermutlich ganz normal aussieht, bietet einem nicht das schützende Kraftfeld, das von Selbsthass ausgeht.
    Wenn du nicht weißt, wer du bist, gibt dir der Wahnsinn etwas, an das du glauben kannst, und während ich im Priory eingesperrt bin und mit meinem Wahnsinn verschmelze, steht GH mit seinem im Scheinwerferlicht. Auf unserem Fernseher im Gruppenraum sehe ich ihn kurz auf dem Bildschirm, in einem Interview über seinen ersten großen Film. Er wirkt betrunken. »So ein Idiot«, sage ich zu meiner magersüchtigen Freundin.
    Sie schnaubt. »Ich würde ihn jedenfalls nicht von der Bettkante schubsen.« Klar, dazu hätte sie ohnehin nicht die Kraft.
    Ich schmuggle eine Einwegkamera ins Hospital.
    Das stellt sich als unklug heraus, denn manche Patienten machen ein Theater. Eine Frau flippt aus, als sie die Verbrennungen auf ihrer Wange sieht, die sie sich mit einem Feuerzeug zugefügt hat. Ich lege die Kamera weg. Mit dem Rest des Films fotografiere ich mich selbst im Bett, Proto-MySpace-Bilder, mit eingesaugten Wangen und Schmollmund. Das ist mir schon bei den Selbstporträts von Lindsay Lohan und Britney Spears aufgefallen: Sie saugen dauernd die Wangen ein und machen einen Schmollmund, egal bei welcher Gelegenheit, wobei ihnen offenbar entgeht, dass es die Narben, nicht die Wangenknochen sind, die bei ihren Twitter-Postings am meisten auffallen.
    Nach einer Woche bin ich immer noch benebelt, aber allmählich macht sich Langeweile breit. In der Kunsttherapie zeichne ich ein Bild des jungen Rod Stewart und taufe es
Rod the Mod
– sein Spitzname aus den sechziger Jahren. Keine Ahnung, was mich da gepackt hat. Er bedeutet mir nichts, aber eine gewisse Ähnlichkeit ist da. Die Kunsttherapeutin macht ein großes Aufhebens und sagt, es sei sehr aufschlussreich. Sie tut mir leid. Der brave Familienvater zeichnet den Telegrafenmast, auf den er ständig klettern muss. Der bedeutet ihm alles. Die

Weitere Kostenlose Bücher