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Deine Stimme in meinem Kopf - Roman

Deine Stimme in meinem Kopf - Roman

Titel: Deine Stimme in meinem Kopf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deuticke
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Flughafen an. Meine Eltern sind nicht da. Dad ist an der Verspätung schuld, weil er Angst hat, glaubt Mum. Also stehe ich in der Ankunftshalle von Heathrow, habe keine Ahnung, wo meine Familie steckt, und weiß nicht mehr, wie man ein öffentliches Telefon benutzt. Mit dem englischen Geld komme ich nicht mehr klar. Ich kann mich nicht an die Telefonnummer meiner Eltern erinnern. Also setze ich mich im Flughafen auf den Boden und flenne. Beim Heulen schwellen die Narben an meinem Hals an. Als meine Eltern endlich eintreffen, ist Dad sehr kleinlaut. Er kann mich nicht anschauen.
    Ich fahre mit ihnen nach Hause. Wenn ich mich recht erinnere, verkrieche ich mich ins Bett, und Mums Katzen kommen, um mich zu trösten. Doch das kann nicht stimmen, weil unsere Katze, Roxy, seit zehn Jahren tot ist, und Mum darf erst Jahre später wieder Katzen haben, nachdem Lisa Dad endlich überredet hat. Folglich legt sich niemand auf mich, außer meine eigene Panik.
    Mum überlegt noch, wo ich ambulant in Behandlung gehen könnte, als ich am ersten Morgen bei ihnen aufwache, eine Tasse Tee trinke und dann das Badezimmer verwüste. Damit ist die Sache mit der ambulanten Behandlung gegessen. Ich nahm das ganze Bad auseinander. Ich schrieb alle Wände voll, sogar die Decke. Wie? Wenn man wahnsinnig wird, ist man zu denselben, eigentlich unvorstellbaren Sachen fähig wie ein Betrunkener. Keine Ahnung, wie ich an die Decke kam. Ich war wie im Delirium und total schockiert, als es vorbei war und ich sah, was ich angerichtet hatte. Mum bekommt es mit der Angst zu tun. »Dein Vater wird ausrasten!« Wenn man selbst neben der Spur ist, bringt man auch andere aus der Spur – so ähnlich, wie wenn man jemanden gähnen sieht. Es ist ansteckend. Doch Dad rastet nicht aus. Er kommt früher als sonst von der Arbeit. Schweigend begutachtet er das Badezimmer, als wäre es eine künstlerische Installation. Als er wieder herauskommt, weint er.
    »Es sind ja nur Dinge.«
    Er nimmt mich in den Arm.
    »Wie können wir dir helfen? Was sollen wir tun?«
    Ich liebe ihn so sehr. Doch ich muss sagen: »Weiß nicht.«
    Ich bekomme kaum noch ein Wort heraus. Ich bin in Trance. Nur jemand mit einem tiefen spirituellen Bewusstsein kann in einer solchen Trance sein wie ich, die ich mich so absolut verloren fühle. An diesem Abend essen wir in einem Restaurant, und ich halte den Arm an den glühend heißen Radiator und versuche, wieder in meine Haut zurückzufinden, meinen Körper zu mir zurückzurufen (die Brandwunden, die ich mir zufüge, sind mein Batman-Signal am Himmel). Doch ich finde nicht zu mir zurück. Und am nächsten Morgen werde ich ins Krankenhaus gebracht.
    Ich weiß nicht mehr, wie wir zum Priory Hospital kamen (wie ein Betrunkener oder ein Patient, der aus der Narkose aufwacht, erinnert man sich zwar an das Wo, nicht aber an das Wie). Ich weiß aber noch genau, dass mich ein chinesischer Krankenpfleger aufnahm, der richtig sauer wurde, weil ich seine Fragen nur einsilbig beantwortete.
    »Warum sie nicht spricht mit mir? Warum sie mich nicht mag?«, faucht er meine Mutter an.
    »Ähm, sie hat gerade versucht, sich umzubringen.«
    Beleidigt stürmt er hinaus, und eine Krankenschwester kommt, um ihn abzulösen.
    »Unterzeichnen Sie hier«, wird meiner Mutter gesagt.
    Und sie unterschreibt.
    Nun bin ich offiziell aufgenommen, bis auf weiteres.
    Ich war vor dieser erzwungenen Rückkehr länger nicht mehr in London gewesen, und die Zahl meiner Besucher hält sich in Grenzen. Und hängt eher vom Zufall ab. Selbst engste Freundinnen können nicht damit umgehen. Die Bekannten, die ich eher auf Abstand hielt, sehen es vielleicht als eine Möglichkeit, mich näher kennenzulernen, obwohl es im Moment kein »Ich« gibt, das sich dafür anböte.
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