Deine Stimme in meinem Kopf - Roman
herrliche Stadt, und ich hatte eine gute Zeit hier. Ich dachte, ich würde nie, nie zurückkommen. Ich dachte, ich würde den Namen dieser Stadt nie wieder aussprechen, ganz zu schweigen davon, ihr zu erlauben, meinen auszusprechen. Die Zeit heilt alle Wunden. Und wenn nicht, gibst du deinen Wunden einfach einen anderen Namen und lässt sie bei dir bleiben.
36. Kapitel
Ich überrede Mum, diese Woche mit mir zum Sabbat-Gottesdienst zu kommen. Ich will, dass sie Rabbi Wolpes Predigt hört. Diesmal übertrifft er sich wieder einmal selbst.
»Kennt ihr die chassidische Geschichte von Rabbi Bunem von Przysucha, einem berühmten chassidischen Meister, der eines Tages mit einigen seiner Schüler spazieren ging, als er auf eine Gruppe von Chassidim zeigte und sagte: ›Seht ihr die Chassidim dort drüben? Sie sind tot.‹ Und die Studenten fragten: ›Was soll das heißen: Sie sind tot?‹ Der Meister wiederholte nur: ›Sie sind tot‹, und seine Schüler fragten erneut: ›Woher wollt Ihr wissen, dass sie tot sind? Sie sind auf den Beinen und gehen spazieren!‹ Und der Meister sagte: ›Sie sind tot, weil sie aufgehört haben, Fragen zu stellen.‹ Sie gingen noch ein Stück weiter, und einer seiner Schüler wandte sich erneut an ihn: ›Rabbi, woher wissen wir, dass wir nicht auch tot sind?‹ Und der Meister antwortete: ›Weil ihr noch Fragen stellt.‹«
Ich schaue zu Mum.
»Warum ich heute über das Thema ›Fragen‹ spreche? Nun, ich habe mir eine brandneue Frage gestellt, nicht über das Leben, obgleich sie sich in eine solche verwandelte ... Als ich diese Woche die Parascha las, war es natürlich derselbe Abschnitt, den wir jedes Jahr um diese Zeit in der Thora lesen, und ich weiß nicht, wie oft ich ihn schon gelesen habe, doch diese Frage hatte ich mir noch nie gestellt. Es ist die Stelle, wo Jakob mit einem Engel ringt, und während er mit dem Engel kämpft, bricht der Morgen an, und er sagt: ›Ich lasse dich erst los, wenn du mich segnest ... wenn du mich segnest.‹ Und der Engel sagt zu ihm: ›Dein Name wird nicht länger Jakob sein, sondern fortan Israel, der Gottesstreiter, derweil du mit Menschen und mit Engeln gekämpft und überlebt hast.‹ Nun habe ich diese Stelle wahrlich schon viele Male gelesen, doch erst diese Woche fiel mir auf, dass der Engel ihm nicht seinen Segen gab!«
Mum verzieht das Gesicht wie immer, wenn sie nachdenkt.
»Der Engel sagte nicht: ›Mögest du Kinder haben, mögest du zu Wohlstand kommen, mögen dir Gesundheit und Glück beschieden sein‹, und doch lässt Jakob ihn ziehen! Also wusste ich, so unvermeidbar wie Anlass zu einer guten Frage muss es auch eine Antwort geben, die zu uns spricht, zu unseren Herzen, unseren Seelen, die etwas zu bedeuten hat. Warum lässt Jakob den Engel ziehen?«
An diesem Punkt kommen mir die Tränen. Mum dreht sich zu mir, und ich tupfe mir mit dem Zeigefinger die Tränen an jedem Auge ab.
»Und mir wurde klar, dass Jakob in den Worten des Engels einen Segen gesehen haben muss, und dem war auch so, und das gilt auch für uns. Was der Engel Jakob gab, war der Segen der Selbst-Verwandlung. Du musst fortan nicht mehr Jakob sein. Du hast gerungen. Und jetzt kannst du dich verwandeln.«
Meine Tränen sind inzwischen richtige Geschoße (recht biblisch, wie ich finde).
»Es bedeutet nicht, dass Anteile des früheren Jakob nicht auch an euch haften bleiben, das werden sie euer ganzes Leben lang, aber nun werden sie zusammengefasst zu etwas Größerem. Denn der Engel gab ihm in der Tat den bedeutendsten aller Segen – den Segen, dem alle anderen Segnungen entströmen – nämlich den Segen, seine Seele in etwas Größeres, in etwas Schöneres zu verwandeln, in etwas, das mehr Nähe zu Gott hat, mehr Nähe zu dem, was er ursprünglich sein sollte ...«
Ich bekomme keine Luft mehr und warte darauf, dass Sauerstoffmasken von der Decke der Synagoge fallen.
»... deshalb kann Jakob am nächsten Tag hingehen und Esau, seinen Zwillingsbruder, treffen, und mit ihm Frieden schließen. Als ich das las, wurde mir bewusst, wie ungeheuer wichtig und in mancher Hinsicht auch gegenkulturell das war. Man kann keine Zeitschrift aufschlagen und keine Zeitung lesen, ohne zu erfahren, wie sehr man von seinen Genen determiniert ist, von seiner Umgebung, seinen Altersgenossen, seinen Eltern; wir alle sind überprogrammiert, von allen möglichen Faktoren, welche die Möglichkeit ausschließen, dass man sich selbst verwandeln kann. Nun können wir uns
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