Delete: Thriller (German Edition)
sich wie ein weggesperrtes Haustier, dem man zum Trost ein paar Leckerli aus der Zoohandlung mitgebracht hatte. Und nun setzte er sich auch noch zu ihr an den Tisch.
»Iss erst mal in Ruhe. Danach gucken wir zusammen meinen Lieblingsfilm.«
Was sollte das jetzt wieder? Glaubte er ernsthaft, sie mit irgendeiner Schnulze für sich einnehmen zu können? Oder war sein Lieblingsfilm vielleicht ein Porno? Würde er über sie herfallen?
Unter seinen wachsamen Augen aß sie ihre Cornflakes auf und machte sich ein halbes Marmeladenbrötchen. Als sie fertig war, stellte er einen der Stühle neben die Matratze.
»Leg dich hin. Mach es dir bequem«, sagte er.
Sein Tonfall deutete an, dass sie dort liegen bleiben sollte, bis er ihr etwas anderes befahl. Immer wieder nervöse Blicke in ihre Richtung werfend, verkabelte er Fernseher und DVD-Player. Dann nahm er eine DVD aus der Tüte und legte sie in den Player.
Mina schluckte, als der Filmtitel erschien: Welt am Draht von Rainer Werner Fassbinder.
»Kennst du den?«, fragte er.
»Nein.«
»Wird dir gefallen. Fassbinder war ein Genie. Er wusste es. Ich begreife bis heute nicht, wieso sie ihn den Film haben machen lassen. Aber vielleicht haben sie gedacht, wenn es so offensichtlich Science-Fiction ist, wird es erst recht niemand glauben. Hast du Die Matrix gesehen?«
Mina hatte wirklich keine Lust, jetzt über Filme zu plaudern. Aber es konnte nicht schaden, ihn bei Laune zu halten.
»Ja.«
»Der letzte Schrott gegen Welt am Draht . Dieser ganze pseudoreligiöse Scheiß! Manchmal denke ich, die Wachowskis sind bloß Avatare, und dieser Film wurde gedreht, um uns Sand in die Augen zu streuen. Ich meine, damals bei Fassbinder war die Technik ja noch lange nicht so weit. Aber heute fängt man allmählich an, zu begreifen, dass simulierte Welten tatsächlich möglich sind. Wusstest du, dass Welt am Draht über dreißig Jahre nirgendwo erhältlich war, nicht mal als Raubkopie im Internet? Erst, nachdem die Matrix -Filme erschienen, haben sie auch Fassbinders Werk wieder veröffentlicht und behauptet, das sei die Vorlage gewesen. Als könne man diesen geniale Film mit dem Wachowski-Schrott auf eine Stufe stellen. So haben sie das Original geschickt diskreditiert. Und das Volk der Ahnungslosen findet natürlich Die Matrix viel besser, weil da mehr Action drin ist und die Helden coole Klamotten tragen.«
Er redete sich richtig in Rage. Vielleicht war das ihre Chance, dass er irgendwann unachtsam wurde, vielleicht konnte sie ihn sogar ein bisschen provozieren.
»Ich fand Die Matrix gut. Vor allem den ersten Teil.«
»Du kennst ja auch den Fassbinder-Film noch nicht«, erwiderte er nur und startete die DVD.
Mina merkte bald, warum Welt am Draht so lange nicht erhältlich gewesen und weitgehend unbekannt geblieben war: Der Film war sterbenslangweilig. Einschläfernde, minutenlange Kameraeinstellungen, Schauspieler, die die meiste Zeit durch irgendwelche Gänge schlurften und dabei hölzerne Dialoge austauschten. Keine fliegenden Autos, keine Laufbänder auf den Straßen wie in Galouyes Buchvorlage. Dafür Computer, die aussahen wie altmodische Tonbandgeräte, Siebzigerjahre-Klamotten und quietschende elektronische Sounds im Hintergrund.
Sie beobachtete Julius, der gebannt auf den Bildschirm starrte, offensichtlich in den Film versunken. Identifizierte er sich wirklich mit dem Hauptdarsteller, einem muskulösen Typ, der weder so aussah noch so spielte, als sei er der technische Leiter einer Computerfirma, und nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem schmächtigen Julius hatte? Die Lippen ihres Entführers bewegten sich synchron zu denen der Figuren im Film. Er kannte die Dialoge auswendig!
Zeit, etwas zu unternehmen. Vorsichtig zog sie die Beine an und setzte sich in den Schneidersitz. Keine Reaktion.
Stück für Stück veränderte sie ihre Position, bis sie auf den Knien hockte, die Füße angewinkelt unter dem Po, sprungbereit.
»Jetzt«, sagte Julius und sah sie an. »Jetzt passiert es gleich!«
»Was?«, fragte Mina und versuchte, einen unschuldig-neugierigen Ton anzuschlagen.
»Die Kontakteinheit übernimmt den Körper von Fritz Walfang und dringt in die vermeintliche Realität vor. Pass auf!«
Er wandte sich wieder dem Fernseher zu. Ein Mann lag auf einer Liege, eine Art Frisörhaube über dem Kopf. Er streifte sie ab und stand auf. Ein Dialog entspann sich, in dessen Verlauf klar wurde, dass der Mann nicht mehr derselbe war wie zuvor. Es kam zu einer Rangelei, die
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