Delfinarium: Roman (German Edition)
der Straße, durch die wir fahren, roter Backstein in Reihe, einzig ihren Mund. Ich mache eine Makroaufnahme, eine Vergrößerung, blassrote Lippen, schmal eigentlich, aber der Rand der Oberlippe aufgeworfen, wie mit einer Naht zur Haut darüber abgeschlossen. Ich schaue die blonden Härchen darüber an, einen kleinen Schnurrbart, über den ich gerne mit dem Finger streichen würde. Ich betrachte die Fahrbahn, den dunklen Asphalt, dann wieder ihren Mund, ihre Lippen, die keinen Ton preisgeben.
Wir sehen uns die Show an. Wieder ist sie beseelt und scheint davonzuschweben, vom Sitz neben mir hinein in ein wirkliches Leben. Mit dem Ende der Vorführung erfolgt die Landung, und ich finde eine Stumme neben mir, der die Enttäuschung anzumerken ist, dass dies jetzt die wirkliche Welt ist, Zuschauerränge, Wärter in grüner Uniform, Omas mit Enkeln, ein gerade erst ausgewachsener Betreuer, und nicht mehr der Zauber von eben.
Wir gehen Richtung Ausgang, Richtung Parkplatz, jeder hängt seinen Gedanken nach, jedenfalls nehme ich das an, ich zumindest tue das. Ich denke an das eine Mal, als ich mich in der sechsten Klasse zum zweiten Mal richtig schlimm verliebt habe, in ein Mädchen namens Doreen. Damals lebten wir in einer anderen Stadt, und wir sind fortgezogen, ohne dass ich ihr jemals gesagt oder gezeigt habe, wie sehr ich in sie verliebt gewesen bin, zwei Jahre lang. Und weitere zwei Jahre hat es in meiner Brust wehgetan, wenn ich an sie dachte. Ich denke daran und werde immer noch traurig. Doreen. Ich frage mich, ob das so bei mir gehört, ob das schon so etwas wie ein Muster ist, wenn das Gefühl von Liebe, von Verliebtheit, immer mit Unglücklichsein verbunden ist.
Man muss nicht besonders originell sein, um auf die Idee zu kommen, dass es mit meiner Mutter zu tun hat. Ein ekliger Psychoanalytiker mit Vollbart würde das vermutlich feststellen.
Ich habe nicht viel, was mich an meine Mutter erinnert. Vor allem habe ich ein Foto, das ich in meiner Nachttischschublade aufbewahre. Es gibt natürlich noch mehr Fotos, mein Vater hat ein Album voller Bilder, auf denen man uns zu dritt sieht, früher, in den glücklichen Jahren. Reisen im VW-Käfer mit dem dicken Kontrabasskasten auf dem Dachgepäckträger, meine lachenden Eltern, ich auf dem Arm, von was weiß ich wem aufgenommen. Aber es ist dieses eine Foto, das ich besonders mag. Dieses Foto stellt für mich meine Mutter dar. Es ist meine Mutter, so wie ich sie kenne, wie sie mich durch die spätere Kindheit begleitete. Auf dem Foto trägt meine Mutter ein Sommerkleid und eine Strickjacke um die Schultern, sie ist noch jung, so alt wie ich jetzt vielleicht, das kann man nicht genau erkennen. Sie liegt auf einer Wiese. Neben ihr steht ein Picknickkorb auf einer karierten Decke – das Foto ist schwarz-weiß – im Hintergrund sieht man einen Bach, die Böschung des Baches, und in der Ferne einige flache Fabrikgebäude. Ich weiß nicht, wer das Foto aufgenommen hat, ich habe meinen Vater nie gefragt. Sie ist sehr hübsch, ihr Gesicht ist klar und rund und sehr weiß, die Haare schwarz, und sie schaut nach oben und es ist jedem Betrachter klar, dass sie glücklich ist und den Wolken nachschaut, die durch einen blauen Himmel treiben. Sie erlebt ihren perfekten Tag, das sieht man, oder zumindest einen perfekten Moment, und dieser ist auf ewig festgehalten auf dem Foto in meiner Nachttischschublade, das ich manchmal abends heraus hole.
Erst lange nach der auf dem Foto festgehaltenen Zeit hat sie meinen Vater kennengelernt. Er hatte gerade bei einem Orchester angefangen, und ich glaube, dass ihr der Kontrast gefiel, ein kleiner, seriöser Musiker, der sich sein Leben am Kontrabass erzupfte und erstrich, der Mozart und Haydn spielte, eine ganz und gar andere Welt, auch mit Musik, aber nicht wie die Typen, mit denen sie herumhing, nachdem sie ihr Studium abgebrochen hatte. Ein Mann, der ihr ein ruhiges und sicheres Leben versprach. Nur dass ihr dieses Leben nach einer Weile langweilig wurde.
Ich muss aufs Klo. Keine Ahnung, wo sich die Toiletten befinden. Der Tierpark ist fast menschenleer, auf der Wiese sitzen zwei Pampashasen. Ich frage mich, ob es eine Verletzung der Aufsichtspflicht darstellt, wenn ich sie alleine lasse. Was soll ich tun, wenn ich mit leerer Blase zurückkehre und sie ist nicht mehr da?
Ich setze Susann auf eine Bank und schaue mich um.
»Ich bin gleich zurück«, sage ich, »ich bin sofort wieder da.«
Sie sieht an mir vorbei ins Gebüsch.
Ich gehe
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