Delfinarium: Roman (German Edition)
nach oben an, die Augen weit geöffnet.
»Ich würde das alles gerne verstehen«, sage ich.
Ich wünsche mir, sie würde endlich sprechen. Jetzt, für mich. Sie blickt in ihre gefalteten Hände hinein.
»Aber ich weiß nichts«, sage ich.
Sie sitzt in sich zusammengesunken. Ihr Rücken ist rund wie eine Hängebrücke. Sie kurbelt ihr Fenster halb herunter, wedelt sich Luft zu.
Eine dicke Frau geht vorbei und schaut interessiert in unsere Gesichter. Ich schnalle meinen Gurt ab. Susann schüttelt den Kopf.
»Was?«, frage ich.
Beim Aussteigen sehe ich, dass ein Stück Papier unter den Scheibenwischer geklemmt ist. Auch das noch. Wieder ein Zettel. Auf dem Zettel steht: Sie ist nicht, was sie scheint.
Warum kommunizieren alle Menschen über Papierschnipsel mit mir?
Ich kann die Handschrift nicht einordnen. Der alte Mann von neulich. Der Mann von eben, der an Susann herumgefummelt hat. Irgendjemand spielt Schnitzeljagd mit mir.
Henry öffnet die Tür, er sieht uns zögernd an. Ich übergebe ihm seine Frau und frage mich, wo er eigentlich die ganze Zeit das Kind versteckt hält. Ich kenne nur die Fotos aus dem Wohnzimmer, das leibhaftige Kind habe ich nie zu Gesicht bekommen. Ich weiß nicht, wie er es macht, wer sich darum kümmert.
»Willst du ein Bier?«, fragt Henry.
»Nein«, sage ich, »heute nicht, ich muss noch etwas erledigen.« Was eine Lüge ist.
Denn ich fühle mich nutzlos, als ich auf dem Fahrrad sitze. Niemand will etwas von mir. Ich bin dem Leben scheißegal, so sieht es aus.
So sieht er aus, ein durchschnittlicher, nutzloser Tag aus dem Leben eines Taugenichts: Weil der Tag mich nicht auslastet, schlafe ich erst tief in der Nacht ein. Ich wache irgendwann vormittags auf, zwischen zehn und zwölf. Ich gehe hinunter in die Küche, um mir Kaffee zu kochen. Mein Vater sitzt im Wohnzimmer im Sessel und blickt aus dem Fenster. Oder er blickt auf den Teppichboden hinab. Oder seine Hände an. »Hallo«, sage ich, stecke den Kopf durch den Türrahmen. Dann geht es zurück in die Küche, wo ich uns beiden so etwas wie ein Frühstück bereite. Anschließend gehe ich wieder hinauf in mein Zimmer, wo ich etwas lese oder Musik höre. Oft aber langweile ich mich bereits so sehr, dass ich nicht einmal mehr dazu Lust habe, der Überdruß ist schon zu groß geworden. Oder ich gehe spazieren, endlos am Deich entlang, das ist noch das Beste. Ich sehe den Möwen zu, betrachte die Segler, die sich auf dem Fluss abmühen. Sehe graue Wolken auf die Stadt zutreiben. Ich habe keine Ahnung, wie das jemals enden, wie ich jemals aus dieser Art von Labyrinth hinausfinden soll. Ich habe mich verlaufen und nicht daran gedacht, den Weg mit Brotkrumen zu markieren.
Früher hatte ich immer Geschichte studieren wollen. Stattdessen habe ich nach dem Abitur erst einmal ewig lange in einer Brotfabrik gejobbt. Jeden Tag fuhr ich mit dem Bus zur Fabrik und packte von Maschinen gebackenes Brot auf Paletten für die Auslieferung. Ich hätte das ewig tun können. Und deshalb kündigte ich irgendwann. Weil ich wusste, dass ich sonst nie in Bewegung kommen würde. Die Zeit danach fühlte sich eine Weile wie endlose Sommerferien an. Irgendwann aber war die Luft raus, die Langeweile griff nach mir, ließ mich nicht mehr los.
Ich bin ins Berufsinformationszentrum gefahren. Ich hätte mich um Praktikumsplätze bewerben sollen, im Internet recherchieren. Aber mir fehlte die Energie. Mir fehlt der Impuls, die Motivation. Ich bin schlaff, eine überlebensunwürdige Daseinsform, eine moralisch minderwertige Schleimkreatur, die sinnlos durchs Leben schlappt, neben der sich eine Amöbe komplex und gemeinschaftsdienlich ausnimmt.
Neulich hatte ich ein Gespräch mit meinem Vater über das Thema.
Er stand im Flur, als ich die Treppe hinunter kam, um mich aus dem Haus zu schleichen.
»Daniel, kann ich mal mit dir reden?«
»Klar«, sagte ich.
Ich setzte mich auf die dritte Stufe der Treppe und sah ihn an.
»Ich frage mich, was du mit deinem Leben anfangen willst. Ich frage mich das schon eine ganze Weile. Ich weiß nicht, ob ich dir so eine Frage stellen darf. Du brauchst gewiss Zeit für deine Entscheidung, und ich will dich nicht drängen oder unter Druck setzen. Aber ich bin dein Vater und ich mache mir so meine Gedanken. Ich kann einfach nicht sehen, in welche Richtung du eigentlich willst.«
»Papa«, sagte ich.
Mir war klar, dass ihm das seit Tagen auf der Zunge lag, wahrscheinlich seit Wochen. Oder Monaten. Endlich hatte er
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