Delfinarium: Roman (German Edition)
auf die Pampashasen zu, über die Wiese. Dahinter befindet sich die Backsteinwand eines Gebäudes mit ein paar Büschen davor. Die Pampashasen hoppeln schwerfällig davon. Beim Pinkeln schaue ich über meine Schulter. Ich sehe Susann auf der Bank sitzen. Sie regt sich nicht. Als ich das nächste Mal schaue, steht ein Mann vor ihr. Der Mann ist groß, er ist in ihrem Alter, so um die 30. Er hat braune Haare und trägt eine Lederjacke. Er steht vor ihr und spricht auf sie ein. Susann sieht ihm ins Gesicht und scheint zuzuhören. Der Strahl meines Urins will nicht abreißen, endlos fließt es aus mir heraus. Ich habe keine Ahnung, was dort drüben vor sich geht. Der Mann steht und spricht, dann fasst er Susann am Ellenbogen und zieht an ihr. Er will, dass sie aufsteht. Sie bleibt sitzen. Er beugt sich vor und macht wiederholt eine Geste seitlich an ihrem Kopf. Er reibt seine Fingerspitzen, so sieht es über die Schulter gesehen aus. Er richtet sich auf und spricht heftig mit dem Kopf wippend auf sie ein. Sie schaut zu ihm hoch. Ich bin jetzt fertig mit Pinkeln. Ich versuche zu rennen, schlitze mir im Laufen den Hosenstall zu. Der Mann fasst Susann mit beiden Händen am Oberam. Ich laufe mit großen Schritten, aber ich nähere mich kaum, wie in diesem bekloppten Traum, in dem man gegen einen unsichtbaren, zähen Widerstand ankämpft. Ich sehe den Mann reden und hantieren, und ich kann nicht verhindern, was dort vor sich geht. »He«, rufe ich, aber beide ignorieren mich. Als ich nur noch Meter entfernt bin, wendet der Mann mir den Kopf zu, er hat graue Augen, er lächelt mich offen und vertrauensselig an. Da steht kurz die Zeit still. Dann wendet er sich ab und geht weg. Ich stehe atemlos vor der Bank und sehe Susann an. Susann blickt erstaunt zu mir hoch, als hätte ich sie geweckt, als würde sie mich gleich fragen: Wie spät ist es?
Ich schaue mich um. Ich habe keine Ahnung, wohin der Mann verschwunden ist. Ich sehe die niedrigen Buchsbaumhecken, die Birken, die Wiese, Pampashasen und etwas weiter die rote, japanische Brücke über dem Teich. Er ist weg, keine Spur von ihm.
»Was war das?«, frage ich, als wir im Auto sitzen. Ich habe es schon ein paar mal gefragt. Ich habe das Lenkrad mit beiden Händen umfasst, starre vor mich hin.
Susann schluckt und ich sehe sie an, und alles, was um sie herum ist, gerät unscharf, lässt sich nicht festhalten, nur sie ist real. Die Wirklichkeit ist zusammengeschrumpft, sie bildet eine Glocke um das Auto herum, weil sie ihre Hand auf meine legt. Sie greift nach meiner Hand auf dem Lenkrad, die schon nach dem Zündschlüssel fassen will, und lässt ihre auf meiner liegen. Ihre Hand fühlt sich warm an. Ich sehe sie an, verliere mich im Anblick, ich würde sie gern drücken und tue es nicht, ich atme flach, weil ich Angst habe, ich könnte etwas vertreiben, wenn ich mich zu laut, zu aufdringlich verhalte.
Mir bricht der Schweiß aus.
Während der Fahrt sehe ich immer wieder zu Susann hinüber, aber sie starrt geradeaus durch die Windschutzscheibe. Ich habe das Gefühl, ich müsste noch einmal von vorne anfangen.
Ich schalte das Abblendlicht ein, weil wir in den Tunnel hineinfahren, der uns auf die andere Seite des Flusses bringt. Als Kind hat mich die Vorstellung immer fasziniert, unter dem Fluss hindurchzufahren, über mir Tausende Kubikmeter Wasser, in denen sich lebendige Fische tummeln, gerade jetzt. Über unseren Köpfen treiben Containerschiffe. Als wir die tiefste Stelle des Tunnels unterhalb des Flusses passieren, die mit orangen Pfeilen gekennzeichnet ist, holt Susann geräuschvoll Luft, beinahe ein Seufzen.
Ich parke den Wagen in einer Seitenstraße. Es kommt mir verkehrt vor, gleich bis vors Haus zu fahren und dann im Auto zu sitzen. Henry wird durchs Küchenfenster gucken und sich wundern, was ich mit seiner stummen Frau in seinem Wagen zu besprechen habe.
Ich schaue in ihre türkisen Augen und spiegele mich in der Pupille. Sie betrachtet mich lange, sie betrachtet mich unglaublich aufmerksam, scheint jeden Zentimeter meines Gesichts zu scannen, verweilt bei meinen Augenbrauen, bei meinem Jochbein, den Wangenknochen, schwenkt zur Stirn hoch, schaut sich meine Haare an, was mir immer unangenehm ist, wenn jemand zu lange auf meine Haare schaut. Haare lassen sich so schlecht kontrollieren. Der Blick rutscht zu meinem Mund hinab, modelliert meine Lippen nach, ruht sich auf meinem Kinn aus. Sie scheint zu keinem Entschluss zu kommen.
Sie schaut mich von unten
Weitere Kostenlose Bücher