Delfinarium: Roman (German Edition)
beim Annähen in der Konfektionsgröße vertan. Sie sind so da, Hände und Füße, ganz im Gegensatz zur restlichen Person.
Sie bewegte die lackierten Zehen im dunklen Gras und ich fragte mich, wie es sein kann, dass eine Frau, die nicht bei sich ist, sich die Zehennägel lackiert. Ich fand mich selbst sonderbar, wie ich gebannt dasaß und durch das Glas staunte.
Ich liege im Bett und denke an Henrys Frau, es ist ein Sog, der von ihr ausgeht, es zieht in meinem Bauch. Ich fühle mich hilflos, wie ein Vogel, der in einer beschämend simpel konstruierten Falle gefangen worden ist.
8. Der Wolfsmann vom Alten Land
Ich greife zum Telefon. Vor mir liegt die Visitenkarte des alten Mannes, der mich vor der Kirche angesprochen hat. Oberalter vom Alten Land. Ich weiß nicht, ob irgendein sinnvoller Zusammenhang besteht. Wusste er, dass er mich im Alten Land wiedertreffen wird? Hat er etwas mit Susann zu tun?
Ich melde mich mit meinem Namen, Martin Daniel.
Ich frage ihn, ob er sich erinnert, und er sagt: »Aber ja, natürlich, ich freue mich, dass du anrufst.«
Der Oberalte duzt mich sofort, vielleicht ist er ein Freund oder der alte Vater von Henry?
Ich sage ihm, dass ich mich frage, ob er mir in einer Sache helfen könne, ich könnte vielleicht einen Rat gebrauchen, und er habe mir ja auch etwas sagen wollen anscheinend.
»Ah«, sagt er, »ja, was meinst du?«
Ich habe im Grunde zwei Möglichkeiten, denke ich, bluffen oder mit der Tür ins Haus.
»Wissen Sie etwas über die Frau, mit der ich in den Zoo gehe?«
Ich komme mir vor, als würde ich in der Welt der Erwachsenen Detektiv spielen.
»Komm ins Museum«, sagt er, »über manche Dinge sollte man nicht am Telefon sprechen.«
Das Museum ist in einem Reetdachhaus untergebracht. Ein großes, altes Bauernhaus mit viel weiß lackiertem Fachwerk und reich verziertem Giebel. Zur Straße hin, dem Haus vorgelagert, mitten auf dem Grundstück, steht eine alte Schmuckpforte, ein schmuckbesetztes Holztor mit geziegeltem Dach, wie sie im Alten Land häufig sind. Diese Pforten wurden früher nur zweimal im Leben der Bewohner benutzt, steht auf dem Schild an der Pforte, einmal, um Haus und Grundstück nach der Trauung in Besitz zu nehmen, und später, um in einer Kiste durch diese Pforte Richtung Friedhof getragen zu werden.
Die Tür zur Tenne ist angelehnt. Ich sehe mich im Halbdunkel um, moderige Kähne, landwirtschaftliches Gerät, eine kompliziert konstruierte Apfelpflückmaschine aus den Anfängen des automatischen Zeitalters. Ich trete an eine Schautafel heran, von einer Halogenlampe beleuchtet. Auf der Tafel steht, was der Name Altes Land zu bedeuten hat. Ich weiß nicht, ob ich es wirklich wissen will. Ich habe mir immer vorgestellt, es habe etwas mit grauer Vorzeit zu tun, mythische Anfurten, ein Elbenvolk, das aus fernen Gestaden mit seinen anmutigen Lichtbooten an dieser Flussküste gelandet ist, lange vor den Menschen, um dieses Alte Land in Besitz zu nehmen.
Tatsächlich unterscheidet der Name zwischen dem Land, das die Sachsen nach der Völkerwanderung hatten urbar machen können, lese ich, jenem höher gelegenen Land direkt am Ufer des Flusses, und jenem anderen, tiefer und weiter landeinwärts gelegenen, feuchten Marschland, das erst die herbeigeholten holländischen Siedler um 1500 mit ihrer fortschrittlicheren Technik trockenlegen und kultivieren konnten, Dränagen, Kanäle usw. Deshalb haben auch einige Ortschaften holländische Namen, Hollern-Twielenfleet oder Niencop. Es hat nichts mit Mythologie zu tun, sondern mit Landgewinnung, ein technischer Begriff. Es gibt Dinge, die will man gar nicht genau wissen.
Ich bin allein im Museum, kein Mensch ist zu hören, nicht das geringste Knarren alten Holzes.
Ich wandere vorsichtig durch die alten, staubigen Räume im Erdgeschoss, betrachte die Altländer Hochzeitstrachten, ich informiere mich über den Patentmaulkorb, den Tittengevstohl, die Puppe Mönölöke und die Wolfsangel, die man in den alten Zeiten in den Baum gehängt hat.
Ich betrachte den schwarzen Metallgegenstand, der aussieht wie ein angespitzter Anker mit Widerhaken.
Im Begleittext steht, dass es bis ins 16. Jahrhundert hinein Wölfe im Alten Land gegeben habe, sie seien vereinzelt wegen des Schafreichtums aus dem Lüneburgischen herübergewandert und hätten nachts auf dem Deich die Schafe gerissen. Die Wolfsangel wurde mit einem Köder versehen und dann so hoch an einer Kette in einem Baum aufgehängt, dass der Wolf hochspringen
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