Delhi Love Story
durch sie hindurch. Sie bitten uns hinein.
Der alte Kronleuchter, der in der Eingangshalle hoch
über meinem Kopf schwebt, beeindruckt mich ein bisschen. Mit seinen tausenden vergilbten Kristallen und staubigen Bronzeornamenten sieht er aus, als habe er schon immer dort gehangen. Der Boden ist aus Stein; die Jahre haben feine Risse in den Kacheln hinterlassen. An der Rückseite des Hauses weist eine Fensterfront hin zum großen Garten, die Wände sind mit Schwarzweißporträts und Pfauenfedern geschmückt. Die Aussicht ist atemberaubend. Wir gehen auf die Veranda, mir wird schwindelig. An einem Messinghaken baumelt ein Spazierstock; ich sehe Korbstühle und eine Schaukel. Die schiere Größe des Hauses ist unglaublich, es ist mindestens dreimal so groß wie unser schiefergedecktes Kolonialstil-Haus in Minnesota, das Grundstück ist zehnmal so groß wie unser Garten. Ich muss daran denken, wie Papa fröhlich pfeifend im Garten die Büsche und Sträucher beschnitt. Wie ärmlich müssen sie im Vergleich zu den prachtvollen Bäumen im Park seines Geburtshauses gewirkt haben!
Er hätte hierbleiben können. Ich erschrecke angesichts der Vorstellung, ich selbst hätte hier geboren werden können. Dieser kleine Palast mit Kamin, großem Innenhof und einem Park voll alter Bäume hätte unser Zuhause sein können. Dieses Wohnzimmer mit den Bambusventilatoren, der hohen Decke, dem türkischen Teppich und den Beistelltischen, die größer sind als unser Esstisch.
Ich reiße mich zusammen. Genau hier ist es passiert. Auf diesem Teppich, an diesem Tisch, in diesem Raum. Hier hat sie Ma geschlagen. Nie könnte ich hier hingehören.
Neera-Tai sagt, Mai warte in ihrem Zimmer auf uns. Seit ihrem Schlaganfall bewegt sie sich kaum noch und an ihren Rollstuhl hat sie sich nie gewöhnt. Aber insgesamt geht es ihr nicht schlecht. Sie hat ihren eigenen Fernseher und Videorekorder. Dreimal pro Woche kommt eine Masseurin zur Behandlung. Und Mai kann sogar noch ohne die Hilfe des Dienstmädchens auf die Toilette gehen.
Ich zwinge mich, Ma in das Zimmer am Ende des Flurs zu begleiten. Ich merke, dass ich mir diesen Moment mein Leben lang ausgemalt habe. Ich stellte mir immer eine finstere Frau vor, die mit hasserfülltem Gesicht aus ihrer Höhle hervorblickt. Ich stellte mir vor, wie ich mich zwischen Ma und sie warf, wie ich mich ihr in den Weg stellte, wie sie auf dem Boden lag und um Vergebung flehte. All das stellte ich mir vor.
Als ich die Person auf dem Bett in der Mitte des Zimmers sehe, bleibe ich regungslos stehen. Jahrelang habe ich mir alles Mögliche vorgestellt, aber diese eingefallene Frau auf dem Bett habe ich nicht erwartet. Auf das dunkle Gesicht, das sich Ma zuwendet und sie erkennt, bin ich nicht vorbereitet. Diese winzige, hilflose Person hat Ma geschlagen? Diese zerbrechliche Frau ist die Mutter meines Vaters?
»Sujit?«
Ich merke, dass ich mich nicht bewegen kann. Mein Blick wandert zum Hausaltar am Bett. Dort, größer als die Götterbilder, steht das Bild des kleinen, braunhäutigen Jungen mit den feurigen schwarzen Augen. Ich sehe mir das Bild genau an: das freche, lachende Gesicht, das
dichte schwarze Haar. Ich sehe so lange hin, bis meine Augen brennen und ich nichts mehr erkennen kann.
»Mai.«
Zögernd geht Ma zum Bett. Vorsichtig legt sie eine Hand auf den alten, faltigen Arm. Die alte Frau krümmt sich und beginnt zu schluchzen.
»Mai, schau mal, Anisha ist hier.«
Die Frau hebt den Kopf, setzt ihre Brille auf und sieht mich an. Durch die Brillengläser sehe ich ihre alten, tränenfeuchten Augen, die mich einzusaugen scheinen. Ich kann nicht wegsehen und fühle mich wie aus Stein.
Sie murmelt etwas Unverständliches auf Hindi und streckt mir die Arme entgegen. »Sie sagt, du bist Suj wie aus dem Gesicht geschnitten«, übersetzt Ma.
» Hai Sujit! Anisha, Tochter meines Sujit!«
Ich zwinge mich, einen Schritt vorwärts zu machen. Ihr Haar ist grau, dünn und glanzlos; die trockene Haut hängt dunkel und lose an ihren Wangen, während sie an meiner Schulter schluchzt. »Du bist das Einzige, was mir von meinem Sohn geblieben ist«, sagt sie immer wieder. »Du bist alles, was ich habe.«
Ohne es zu wollen, lege ich die Arme um sie. Durch das dünne Nachthemd kann ich ihre Rippen spüren. Mir wird klar, dass ich mit dieser Frau untrennbar verbunden bin. Sie ist das Einzige, was mir von Papa geblieben ist. Ob wir wollen oder nicht: Durch Blut und Trauer sind wir tief verbunden.
Sechs
Zuhause. Dieses
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