Delhi Love Story
Füßen fühlt sich der Boden überraschend kühl und glatt an.
Einen Moment lang wird das Licht im Raum weicher, weil eine Wolke Schatten spendet. Ich schließe die Augen. Fast kann ich die Bäume im Grand Portage State Park riechen, in dem Papa und ich letzten Frühling wandern waren. Fast kann ich die Rinde riechen, die klare Waldluft, und fast kann ich das Knacken der Äste unter unseren Füßen auf dem Waldweg spüren.
Ein plötzliches Flattern lässt mich die Augen öffnen. Ein brauner, unscheinbarer Vogel, so groß wie ein Lehmklumpen, ist auf meinem Fensterbrett gelandet. Ich beobachte, wie er sich aufplustert und nervös am Fensterrahmen herumpickt. Er ist weder rot noch besonders heiter, kein sehr interessanter Vogel, und dennoch erfasst mich mit einem Mal eine überwältigende Zärtlichkeit für ihn. Ich zähle: Eins. Er ist zwar kein Roter Kardinal, aber das muss genügen.
Sieben
National Public School. Die staatliche Schule ist eine Institution in Indien, ein Tempel des Wissens, ein Hort
der Bildung. Für eine Schule, die herausragend sein will, hat sie eine erstaunlich langweilige Uniform. Ich ziehe den grauen Faltenrock, das weiße Hemd mit spitzem Kragen und großen weißen Knöpfen und die Kniestrümpfe mit den breiten grünen Streifen an. Ich sehe mir die Krawatte an. Noch nie habe ich eine Krawatte getragen. Und ich habe nie damit gerechnet, jemals in eine Situation zu kommen, in der ich eine Krawatte tragen müsste. Ich hänge sie mir um den Hals und frage mich, wie um Himmels willen es so weit kommen konnte. Annie Rai am ersten Juli auf dem Gymnasium mit einer spießigen Krawatte. Daheim in Minnesota laufen die normalen Menschen jetzt barfuß in T-Shirts herum, spielen Basketball und grillen.
»Ann? Bist du so weit?«
Mas Stimme klingt fröhlich. Sie ist König Ferdinand und Königin Isabella in einer Person, und ich bin der mutige junge Christoph, der gleich in See stechen und das wunderbare Indien entdecken wird. Wer weiß, welche Schätze ich ausgraben, welche unbekannten Zivilisationen ich erkunden werde? Sie hat alles getan, um mir den Aufbruch zu erleichtern, sie hat das Schiff mit Proviant beladen, den Anker und die Segel geprüft und mir einen verlässlichen moralischen Kompass mitgegeben. Ungeachtet meiner Proteste hat sie mich sogar mit einem schicken neuen Mobiltelefon ausgestattet. Es ist rosa und steckt voller neuester Technik. »So können wir immer Kontakt halten, Ann!« Ab jetzt liegt alles an mir.
»Ann?«
»Ich komme gleich, Ma.«
Ich schaue in den Spiegel und ziehe den Krawattenknoten fest. Ob du willst oder nicht, du musst in die Schule, erzähle ich der blassen Person im Spiegel. Ob du willst oder nicht, du musst das hinkriegen.
Kaum habe ich die Bushaltestelle erreicht, tuckert auch schon der Schulbus heran. Ich habe keine Zeit mehr, es mir anders zu überlegen. Der Bus ist gelbgrün und kommt einige Meter von mir entfernt quietschend zum Stehen. Ich rücke meinen Rucksack zurecht, steige ein und setze mich auf den erstbesten freien Platz. Der Bus ruckelt vorwärts, ich halte mich fest. Der Anker ist gelichtet, das Schiff sticht in See.
Die Jugendlichen um mich herum – meine Begleiter auf dieser tristen Reise – sind laut und aufgeregt. Den Lachern nach zu urteilen, scheinen sie sogar gut gelaunt. Alle kennen sich schon lange und sind jetzt, direkt nach den Ferien, in Hochstimmung. Ich bin hier die Außenseiterin, das Greenhorn, das seekranke Landei. Ich lehne den Kopf an die vibrierende Scheibe und schließe die Augen. Bleib locker, Annie. Das hier ist eine Busfahrt wie jede andere. Es ist nur ein weiterer sinnloser Tag.
Der Bus hält vor einem gelben Gebäude, das ich gut kenne. Ein paar kleine Kinder steigen ein, dann springt Keds lässig in den Bus. Ich freue mich sehr, ihn zu sehen. Er hat eine neue Frisur und trägt die gleiche grau-weißgrüne Uniform wie alle anderen – aber an ihm sieht sie anders aus. Die Hose sitzt tief, die Krawatte hängt ihm locker um den Hals. Er hat die Ärmel hochgekrempelt;
seine Haare sind noch feucht und stehen in alle Richtungen ab. Als er in seiner schlaksigen Art auf mich zukommt, finde ich den heißen Morgen plötzlich irgendwie angenehm schattig.
»Ani! Du hast den Bus also erwischt.«
»Jetzt sitze ich hier und kann nicht weglaufen.«
»Komm, lass uns nach ganz hinten gehen.«
Wir lassen unsere Rucksäcke auf den Boden fallen und stehen an der geöffneten Tür am Ende des Busses. Hier kann man weder sitzen noch
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