Delhi Love Story
hatte sich nur einen Scherz mit mir erlaubt und sich sogar danach entschuldigt. So
ist er eben. Ich hätte dir früher von ihm erzählen sollen, dann wäre es nicht zu diesem Missverständnis gekommen. Aber jetzt weißt du es ja. Okay?«
Sie legt den Stift zur Seite und blickt trotzig drein. »Ich mag ihn nicht, Ani.«
»Aber du kennst ihn doch kaum!«
»Ich weiß jedenfalls, dass er nichts auf deinem Bett verloren hat!«
»Oh je, Rani, wenn du das so sagst, klingt es irgendwie schmutzig. Betrachte das ganze doch aus meiner Perspektive. Es war schließlich nur ein Kuss!«
Sie will etwas sagen, entscheidet sich dagegen. Die Wohnungstür öffnet sich und Ma ruft: »Hallo, ihr Lieben! Ich bin zu Hause!«
Rani steht auf und will hinausgehen.
»Warte«, sage ich.
»Mach dir keine Sorgen, ich werde Tante Isha nichts erzählen.«
»Was wirst du ihr nicht erzählen?«
»Das mit Kunal.«
Als wäre es ein unangenehmes Geheimnis. Als täte sie mir einen Gefallen. Als hätte sie das Recht – ich spüre, wie Ärger in mir aufsteigt. »Natürlich wirst du ihr nichts erzählen. Es geht dich schließlich überhaupt nichts an!«
Sechsundzwanzig
An Papas drittem Todestag ruft Dadi aus Bhopal an.
Es ist ein Freitag. Schläfrig und desorientiert wache
ich noch vor der Morgendämmerung auf. Meine Zehen fühlen sich seltsam taub an. Ich drehe mich um, öffne die Augen einen kleinen Spalt. Die Leuchtziffern des Weckers zeigen 4:42 Uhr am 21. Oktober. Drei Jahre, denke ich. Mehr als tausend Tage. Ich habe keine Ahnung, wie ich auch nur einen davon durchgestanden habe. Und doch habe ich es irgendwie bis hierhin geschafft.
Ich öffne die Augen ganz. Hinter den braunen Vorhängen ist es noch dunkel. Der dürre Baum vor dem Fenster wirft einen schwarzen Schatten auf den lichtdurchlässigen Stoff. Der Schatten bewegt sich leicht, erstarrt wieder. Ich setze mich auf. Unter meinen Füßen fühlt sich der weiße Marmor wie Eis an. Ich gehe zum Fenster, ziehe die Vorhänge auf. Die Dämmerung hat noch nicht eingesetzt. Ich blicke nach oben in den sternenlosen Himmel. Es ist bewölkt, eine dicke Schicht aus unnachgiebiger Trauer. Darüber muss der klare Himmel sein, eine Landschaft voller leuchtender Sterne, an denen man den Lauf der Zeit ablesen kann.
Er wäre jetzt 45 Jahre alt, wenn sich der Krebs nicht in seinem ahnungslosen Körper eingenistet hätte. Sein Herz würde noch schlagen, sein Haar noch wachsen. Er wäre überrascht, mich so zu sehen: »Ani, was um Himmels willen hast du mit deinen Haaren gemacht!« , hätte er gesagt. Und: »Ishu, meri jaan …!« 14
Aber der Krebs hatte ihn gefunden. Hatte die Hälfte
seines Körpers und alle seine Haare aufgefressen, ihn ausgehöhlt und weggeworfen. Eine Zeit lang sah es aus, als sei der Krebs weitergezogen, doch dann kam er zurück und nahm sich, was noch von ihm übrig war.
Seine schwache Stimme klang nach Schmerzmitteln. Ihr Klang hat sich mir für immer eingebrannt. Genau wie die anderen unvergesslichen Geräusche. Mas tröstende Stimme, die zu ihm sprach wie zu einem Baby. Das Klappern der Dachziegel im Sommersturm. Das Knacken und Seufzen schmelzender Eiswürfel. »Kümmere dich um sie, Ani«, flüstert Papas Stimme in meinem Kopf. »Mach sie glücklich, ich kann es nicht mehr.«
Ich starre hinaus in die sternenlose Nacht und frage mich, was er sagen würde, wenn er Ma jetzt sehen könnte. Würdest du sagen, dass sie glücklich ist, Papa? Wir sind jetzt hier in dieser viel zu hellen Wohnung, umgeben von Freunden, Familie und Alltag …
Wenn sie heute lacht, hört es sich für mich nicht mehr an wie ein Kreischen. Ihre Wangen haben wieder eine natürliche Farbe, sie braucht kein Rouge mehr dafür. Ich bin mit ihr um die halbe Welt gereist, bin mit ihr hierhergekommen, habe ihre Hand gehalten und mit ihr den Abgrund überquert, den du zurückgelassen hast, Papa –und irgendwie sind wir auf die andere Seite gelangt. Ich habe es geschafft, oder, Papa?
Der dürre Baum bewegt sich sanft im Wind, als zucke er mit den Schultern. Der Himmel und die Nacht haben keine Antworten für mich. Sie hatten noch nie Antworten. Ich ziehe den Vorhang wieder zu und gehe in Mas Zimmer.
Sie schläft mit dem Rücken zur Tür. Ihre Knie sind hochgezogen wie bei einem Baby; die Decke ist bis zu den Knöcheln heruntergeschoben. So leise wie möglich klettere ich zu ihr ins Bett und breite die Decke über uns beide. Ihr Kissen ist feucht, ihre Wangen auch. Als ich ihre Wangen abwische, hält sie
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